
Mit sichtbarer Freude am Denken und Erzählen nahm Thomä die Zuhörerinnen und Zuhörer mit auf eine kulturgeschichtliche Reise durch die wechselnden Bilder von Vaterschaft – von antiken Mythen bis zur Gegenwart. „Helden“, so eröffnete er, „sind jene, die über sich hinauswachsen – im Großen wie im Kleinen.“ Mut, sagte er, zeige sich nicht nur in historischen Taten, sondern auch „im privaten Raum, in dem Menschen Verantwortung übernehmen – etwa als Vater oder Mutter.“
Im Zentrum seines Vortrags stand die Frage, wie sich Vaterbilder im Lauf der Jahrhunderte gewandelt haben. Anhand von Kunstwerken und literarischen Beispielen zeichnete Thomä ein lebendiges Panorama. Von Oedipus über Josef und die biblische Familie bis hin zu den bürgerlichen Familienporträts des 18. und 19. Jahrhunderts zeigte sich ein wiederkehrendes Motiv: „Der Vater schaut oft von der Seite hinein – etwas verloren, manchmal wie ein Fremder im eigenen Haus.“ Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth habe dieses Verhältnis treffend beschrieben, sagte Thomä: „Der Vater agiert wie ein fremder König in der Familie.“
Dabei gehe es, so der Philosoph, nicht nur um private Rollen, sondern um gesellschaftliche Ordnungen. In früheren Jahrhunderten spiegelte der Familienvater den Landesvater, und dieser wiederum den Gottesvater: „Eine patriarchale Kaskade von Macht und Verantwortung, die bis in die Familien hineinreichte.“ Mit der Französischen Revolution sei dieses Gefüge ins Wanken geraten – neue Bilder von Gleichheit und Brüderlichkeit hätten die alten Autoritäten abgelöst. Doch, so Thomä mit einem Augenzwinkern: „Wenn alle Brüder sind – wer bleibt dann der Vater?“
In den literarischen Zeugnissen des 19. Jahrhunderts zeige sich, wie schwer diese Rollenkrise wog. Dichter wie Friedrich Hebbel schilderten Väter, „die zu Tyrannen werden“, andere wiederum klagten über ihre Abwesenheit. Der Philosoph unterschied zwei Extreme: den „Stauraum“, in dem der Vater zu viel Macht ausübt, und den „Hohlraum“, in dem er verschwindet. In beiden Fällen bleibe ein Defizit an Beziehung, Orientierung und Nähe.
Auch die Moderne bringe ihre eigenen Brüche hervor – von den Vaterlosen des 20. Jahrhunderts bis zu James Dean, der in der Rolle des rebellischen Sohnes die Suche nach Vorbildern filmisch verkörpert. „Um ein Vorbild zu sein“, so Thomä, „muss ein Vater ein Bild von sich selbst haben.“ Ohne Selbstbild könne keine Weitergabe gelingen.
Zum Ende seines Vortrags fand der Philosoph ein Bild, das zugleich humorvoll und tiefsinnig war: das des „Meisters der Kniebeuge“. Ein guter Vater, erklärte er, müsse bereit sein, sich auf Augenhöhe mit seinem Kind zu begeben – sich kleinzumachen, um Beziehung zu ermöglichen. „Wer als Vater in die Knie geht“, so Thomä, „zeigt nicht Schwäche, sondern Stärke: Er ermögliche dem Kind, groß zu werden.“
So verband der St. Gallener Universitätsprofessor Dieter Thomä Philosophie mit Alltag und Theorie mit Herzlichkeit.
Kurzvita: Univ.-Prof. Dr. Dieter Thomä
Geboren 1959 in Heidelberg. Studium in Berlin und Freiburg, Promotion 1989, Habilitation 1997. Nach Lehrtätigkeiten u. a. in Berlin, Rostock, New York und Essen ist Dieter Thomä seit dem Jahr 2000 Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. Er war Fellow am Getty Research Institute in Los Angeles und ist Mitherausgeber der Deutschen Zeitschrift für Philosophie.
Forschungsschwerpunkte: Sozial-, Kultur- und Ethikphilosophie.
Bekannte Publikationen: Väter. Eine moderne Heldengeschichte (2008), Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds (2016) und Warum Demokratien Helden brauchen (2019).