
Hintergrundbericht von Kathpress-Rom-Korrespondent Ludwig Ring-Eifel
"Mein erster Eindruck: Das ist mehr Latino als Yankee." Mit diesen knappen Worten reagiert der Vatikan-Korrespondent der linken italienischen Tageszeitung "La Repubblica" auf das erste Lehrschreiben von Papst Leo XIV. Und dann erklärt Iacopo Scaramuzzi, was er damit meint. Der Papst lege Wert auf die Feststellung: "Der freie Markt genügt nicht. Armut hat 'strukturelle und soziale Ursachen'."
Tatsächlich enthält das Schreiben des ersten aus den USA stammenden Papstes viel lateinamerikanisches Gedankengut. Rund ein Dutzend mal zitiert er in "Dilexi te" das von den Bischöfen Lateinamerikas1968 geprägte Schlagwort der "vorrangigen Option für die Armen." Und auch den aus dieser Zeit stammenden Begriff "Strukturen der Sünde", in dem sich soziologische und theologische Kategorien vermischen, verwendet der Papst aus Chicago mehrfach.
Das liegt, wie Leo XIV. in dem Schreiben ausdrücklich betont, nicht allein an der Tatsache, dass er für seinen Text Vorarbeiten seines argentinischen Vorgängers Franziskus verwendet hat. Vielmehr macht er sich ausdrücklich die Lehren der fünf großen lateinamerikanischen Bischofsversammlungen von Medellin (1968) bis Aparecida (2007) zu eigen und bescheinigt ihnen, dass sie die Lehre der gesamten Kirche zu sozialen Fragen nachhaltig geprägt haben.
Auch der im Vatikan für Fragen wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit zuständige kanadische Kardinal Michael Czerny ließ bei der Vorstellung des Textes am Donnerstag in Rom keinen Zweifel daran, dass es sich bei diesen Gedanken keineswegs nur um übernommenes Gedankengut von Franziskus handle: "Das hier ist 100 Prozent Franziskus, und es ist 100 Prozent Leo!", so seine Antwort auf eine Journalistenfrage, ob man den Text "Dilexi te" inhaltlich zwischen den beiden Päpsten auseinanderdividieren könne.
Nach US-amerikanischen Maßstäben ist die Position von Papst Leo XIV. "radikal links" und würde in Washington bestenfalls bei einem Teil der Demokraten Zustimmung finden. Das gilt auch für seine Kritik an der freien Marktwirtschaft und ihren Apologeten. Dazu schreibt er mit spitzer Ironie, dass "es nicht an Theorien fehlt, die versuchen, den aktuellen Zustand zu rechtfertigen, oder erklären, dass die wirtschaftliche Vernunft von uns verlangt, darauf zu warten, dass die unsichtbaren Kräfte des Marktes alles lösen." Was er dazu denkt, schreibt er zwei Absätze später mit wenigen Worten: "Wir müssen uns immer mehr dafür einsetzen, die strukturellen Ursachen der Armut zu beseitigen."
Zwar ist "Dilexi te" keine Sozialenzyklika, sondern lediglich eine vom dogmatischen Anspruch etwas tiefer gehängte "Apostolische Ermahnung". Deshalb wäre es verfrüht, Leos Soziallehre bereits vollständig aus dem Text abzuleiten. Aber die Richtung ist eindeutig: Es geht gegen die Musks und Mileis dieser Welt und gegen all jene, die meinen, dass "der Markt" es schon richten wird und am Ende des Tages auch noch genug für die Armen abfällt.
Was im Denken des Papstes aus Chicago gar nicht vorkommt, ist der in Europa von Sozial- und Christdemokraten entwickelte Mittelweg einer Sozialen Marktwirtschaft. Entsprechende Gedanken aus der Sozialenzyklika "Centesimus annus", die Johannes Paul II. im Jahr 1991 veröffentlichte, zitiert Papst Leo XVI. an keiner Stelle.
Beinahe altmodisch klingen die Gedanken von Leo XIV. zum Thema Almosen im letzten Kapitel des Textes. Diese Form der individuellen tätigen Nächstenliebe wirkt in Wohlfahrtsstaaten der EU mit milliardenschweren Sozialetats zwar wie ein Fremdkörper. Dennoch will der Papst sie, wie der für die päpstliche Caritas zuständige Kurienkardinal Konrad Krajewski bei der Vorstellung des Dokuments betonte, neu beleben.
Im Dokument heißt es dazu: "Für diejenigen, die wirklich lieben, ist es klar, dass die Almosengabe nicht die zuständigen Behörden von ihrer Verantwortung entbindet, noch den organisatorischen Einsatz der Institutionen überflüssig macht und ebenso wenig den legitimen Kampf für Gerechtigkeit ersetzt. Sie hält jedoch zumindest dazu an, innezuhalten und den Armen ins Gesicht zu schauen, sie zu berühren und etwas vom eigenen Besitz mit ihnen zu teilen."