Der Jakobsweg ist ein Sehnsuchtsziel, und Gründe für die Pilgerfahrt auf dem Camino gibt es viele. Literarische Erzählungen und Reiseschilderungen aus mehr als 800 Jahren lassen existenzielle Erfahrungen des Leibes und der Seele miterleben. Eine literarische Reise auf dem Jakobsweg.


Birgit Huber

Noch zehn Geschichten könnte ich von dem erzählen, was ich auf dem Weg nach Santiago de Compostela gesehen habe. Staub läge auf der Jahreszahl dieser Reise, bevor ich mit meiner Geschichte am Ende wäre, die Nachrichten des Tages wären vergilbt, aus dem Sommer wäre Winter geworden und aus diesem wieder Sommer, und immer noch wäre ich nicht fertig damit, die unbekannte Schatzkammer Spaniens ist unerschöpflich.“

So seufzt der Schriftsteller Cees Nooteboom in seinem Buch „Der Umweg nach Santiago“. Die Geschichten vom Jakobsweg sind schier endlos. Jeder, der einmal in seinen Bann gezogen wurde, erzählt davon, ob mündlich oder schriftlich - eine unübersehbare, inzwischen globale Gemeinschaft von Geschichtenerzählern. Auch mancher Vorarlberger hat seinen persönlichen Pilgerbericht im Regal.


Ohne Pilgerliteratur würde der Jakobsweg nicht existieren. Eines der frühesten und bekanntesten aller Pilgerbücher gab den Startschuss. Das „Liber Sancti Jacobi“ aus dem 12. Jahrhundert, auch als „Codex Calixtinus“ bekannt, kombiniert Predigten, Liturgie, Wundergeschichten um den heiligen Jakobus sowie einen Leitfaden für den Jakobsweg. In ihm wurden die vier Hauptreiserouten festgehalten, die bis heute ihre Gültigkeit haben. Die Faszination des Camino im Mittelalter war unwiderstehlich. „Die Menschen ließen schlichtweg alles stehen und liegen, um in dunklen, gefährlichen Zeiten zu Fuß durch halb Europa zu ziehen. Den Spuren einer Legende folgend wurden die Pilger selbst zur Legende“, so Cees Nooteboom.


In den 1990er-Jahren lebte die Faszination wieder auf. Die heutzutage populärste Erzählung vom Camino ist wohl die des Komikers Hape Kerkeling. Sein Camino-Erfahrungsbericht „Ich bin dann mal weg“ ist überraschend und erfrischend fromm. Er setzt sich zur Wehr gegen die Auffassung, Pilgern sei „eine Art Wanderung zu sich selbst“: „Pilgern ist nicht Wandern! Wandern bedeutet vor allem ruhiges Vorankommen; Pilgern ist ein bewegtes Innehalten. Wandern ist die äußerliche Unternehmung; Pilgern ist der innerliche Vorgang. Oder, anders ausgedrückt: Man wandert mit den Füßen, aber man pilgert mit dem Herzen!“ Gott steht hier im Mittelpunkt: „Pilgern ist: die Suche nach Gott! Und wer nach Gott sucht, wird unweigerlich über das eigene Ich stolpern!“ In diesem Punkt trifft sich ein TV-Star des 21. Jahrhunderts mit Pilgern des Mittelalters.


In vielen Schilderungen von Jakobspilgern werden Mensch, Natur und Göttliches eins. So auch im Pilgertagebuch „Neuland unter den Sandalen“ des Vorarlberger Benediktinerpaters Christoph Müller. Auf einem Getreidefeld zwischen Villamayor und Los Arcos feiert er mit Pilgern, die in der Gruppe „Eucharistein“ unterwegs sind, Eucharistie: „Statt eines denkmalgeschützten Mosaikbodens breiteten sich da Getreidestoppeln aus, deren Frucht als Brot in der Hostienschale lag. Vom Wein der uns umgebenden Rebstöcke war der Kelch gefüllt. Über uns spannte sich das azurne Firmament in seiner schlichten Schönheit. […] Und als sich bei der Wandlung die erhobene Hostie mit dem Blau des Himmels vermischte, da verschmolzen für einen Moment Getreidefelder und Leib Christi, Weinberge und Blut Christi, Himmel und Erde, Gott und Mensch.“


Der Schriftsteller Paulo Coelho erlebt seine Verschmelzung auf der Anhöhe, auf der Karl der Große das erste Mal auf spanischem Boden betete: „Ich kniete mich auf den Boden und begann die Übung. Alles verlief normal bis zu dem Augenblick, als ich die Arme ausstreckte und anfing, mir die Sonne vorzustellen. Als ich an diesem Punkt angelangt war, leuchtete eine riesige Sonne vor mir, und ich spürte, dass ich in tiefe Ekstase fiel. Meine Erinnerung daran, dass ich ein Mensch war, verlosch langsam, und ich machte jetzt keine Übung mehr, sondern war ein Baum geworden. Ich war glücklich. Die Sonne leuchtete und drehte sich um sich selbst - das war vorher noch nie geschehen.“ Und immer wieder holen die schmerzenden Füße die Pilger auf den steinigen Boden zurück.


Auf dem Camino findet all das seinen Platz: Gottessuche und Erleuchtungserlebnis, christliche Gebete und Esoterik, Eins-Sein mit der Natur und Krankheitsbewältigung. Damit ist er Ausdruck einer Gegenwartskultur, die von einer „Selfness-Sehnsucht“ geprägt ist. Diese - so die Beschreibung eines Business-Trend-Onlineportals - „zielt auf einen authentischen und ausbalancierten Umgang mit dem eigenen Selbst sowie auf die Gewährleistung einer psychophysischen Optimierung. Es handelt sich aber nicht, wie von den Medien häufig falsch verstanden, um einen neuartigen Ego-Kult, sondern um die neue Kultur der Selbstsorge und der permanenten Arbeit am Ich.“


Vor allem aber ist der Jakobsweg eine magische Aneinanderreihung von Orten der Sehnsucht, von der jene, die ihr gefolgt sind, schwärmen. „In der Gegend […] klingen die Ortsnamen wie ein Gedicht. Hontoria del Pinar, Huerta del Rey, Palacios de la Sierra, Cuevas de San Clemente, Salas de los Infantes, Castrillo de la Reina… - Paläste des Gebirges, Garten des Königs, Höhlen des heiligen Clemens, Säle der Königskinder, Lager der Königin.“ Literatur, wie diese Zeilen von Cees Nooteboom, hält die Magie des Weges lebendig. «



(aus dem KirchenBlatt Nr. 8 vom 22. Februar 2018)