Helga Kohler-Spiegel betrachtet Trauer und was sie mit uns Menschen macht aus der Perspektive der Psychotherapeutin. Was trauernde Menschen beschäftigt und was es mit den „Aufgaben“ der Trauer auf sich hat, erklärt sie im Interview.

Frau Kohler-Spiegel, wenn ein Angehöriger mit einem Trauerfall einfach nicht fertig wird: Was raten Sie als Psychologin?

Helga Kohler-SpiegelEs ist tatsächlich relativ häufig der Fall, dass Menschen, die in schweren Abschieden an ihre Grenzen stoßen, sich psychotherapeutische Begleitung suchen. Genau das tue ich dann – begleiten. Es gibt schließlich nicht „die“ Trauer, sondern Trauer ist etwas sehr Persönliches. Man darf nicht unterschätzen, dass oft nicht nur der reale Verlust dieser Person zu betrauern ist, sondern immer auch das, was mit dieser Person nicht gelebt werden konnte, was offen geblieben ist, oder was an alten Erfahrungen mitauftaucht, die unverarbeitet geblieben sind. Letztlich geht es darum, wieder einen guten Bezug zum Verstorbenen zu finden und im eigenen Leben weitergehen zu können.

Gibt es etwas, das Sie in dieser Arbeit als besonders zentral empfinden?

Eine „Aufgabe“ in der Trauer ist es, seinen Gefühlen überhaupt einen Raum zu geben – dem Hadern, dem Zorn, der Wut. Wir sind gewohnt zu funktionieren und möglichst schnell weiterzugehen. Wenn die Beerdigung und die Rituale vorbei sind, dann kehrt die Umgebung auch in den Alltag zurück – die betroffene Person unter Umständen aber nicht. In so einem Fall schauen wir dann: Wo sind Menschen, bei denen ich die Aufmerksamkeit und Geborgenheit finde, die ich brauche? Was heißt es für mich, mit diesem Verlust zu leben?

Wie häufig erleben sie es, dass Menschen das Bedürfnis nach so einer Auseinandersetzung bei sich nicht erkennen, obwohl es für sie vielleicht wichtig wäre?

Ich erlebe berufsbedingt natürlich relativ häufig betroffene Personen, die erkennen: Jetzt wäre es gut, wenn ich mir Hilfe hole. Manchmal tauchen aber auch zuerst körperliche Symptome auf – veränderte Stimmungen, ein unruhiger Schlaf – die dazu führen, dass jemand feststellt: Das ist nicht mehr gut, da muss ich etwas tun. Manchmal erkennt es auch die Umgebung oder ein Arzt oder ein Arbeitgeber, und sagen: Wir unterstützen eine Therapie, weil wir merken, dass die Erschütterung durch den Todesfall so groß war.

Gibt es Dinge, die helfen, besser mit dem Sterbefall klarzukommen?

Ritualisierungen helfen auf jeden Fall. Auch ein Eingebundensein in familiäre Strukturen, einen Freundeskreis oder religiöse Kontexte geben Halt. Gleichzeitig ist aber niemand gefeit davor, im Trauerfall doch den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wenn zum Beispiel noch Verantwortung für Kinder da ist, wird die Belastung doppelt groß: Einerseits die eigenen Kinder zu unterstützen und zu begleiten, andererseits Raum für sich zu haben und all das zu regeln, was zu tun ist. Da sind oft ganz große Herausforderungen. Und manchmal tauchen wie gesagt alte Erfahrungen wieder auf, die nicht verarbeitet werden konnten – heute verwenden wir dafür den Begriff der Traumatisierung. Da ist das Bewusstsein größer geworden, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Sie haben also schon den Eindruck, dass sich der Umgang mit diesen Themen verändert hat oder gegenwärtig verändert?

Ich denke schon. Was ich wahrnehme in der langen Zeit, in der ich mit diesem Thema zu tun habe, ist, dass viel bewusster geworden ist, wie sehr uns das Sterben und der Tod beschäftigen. Menschen sind sich im Klaren darüber, dass es ihnen Angst macht – auch, wenn es sie noch nicht betrifft. Und es ist mehr Menschen bewusst, dass es manchmal einfach Begleitung durch andere braucht.

Wenn Sie sich wünschen könnten, wie Menschen oder die Gesellschaft mit diesen Themen umgehen – was wäre das?

Es sind zwei Dinge: Was nach wie vor zu wenig passiert, ist der Austausch darüber, was ich glaube, dass nach dem Tod geschieht? Ich erlebe immer wieder, wie diese Frage mitschwingt – und Menschen mit ihr alleine bleiben, weil sie erleben: Da hält mir und meinen Fragen, meinen Zweifeln niemand stand. Viele sind mit den allgemeinen Antworten und dem, was weitergegeben worden ist, nicht mehr zufrieden. Es braucht das persönliche Gespräch – ein Glaubensgespräch oder Zweifelgespräch oder auch Unglaubensgespräch – mit Menschen, die keine schnellen Antworten geben, sondern sich wirklich einlassen können.
Eine zweite Sache, die ich immer wieder erlebe, ist, dass Menschen glauben, dass die Trauer viel schneller vorbeigeht. Meine Erfahrung ist jedoch: Das dauert – die Tradition des Trauerjahrs zum Beispiel kommt nicht von ungefähr. Wenn es um eine besonders nahestehende Person geht, ist man unter Umständen aber auch nach einem Jahr nicht „fertig“ – weil es einen Teil der Trauer gibt, der bleibt, weil der Verlust dieser Person eben zum Leben gehört. Mir fällt immer wieder eine Frau ein, deren Partner seit langem verstorben war und die auf die Frage, ob er ihr noch fehle, sagte: „Klar – immer und immer wieder.“

Das klingt jetzt fast ein bisschen ernüchternd…

Muss es nicht sein. Von Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg gibt es einen ganz kurzen Text dazu: „Was ist die beste Art zu trauern? – Zu trauern.“ Es bleibt, „zu trauern“, aber oft hilft es auch, etwas über den Prozess zu wissen – das entlastet Menschen. Zu wissen, dass das Trauern mit Aufgaben verbunden ist, die man lösen kann – und dass man so im Handeln bleiben und nicht immer wieder in diese so schwere Ohnmacht verfallen muss, die in der Trauer oft ein dominantes Gefühl ist und uns am meisten lähmt. Es gibt in der Trauer Momente, in denen man nichts tun kann, aber eben auch Momente, in denen das aktive Annehmen und Auseinandersetzen wichtig sind. Vom Psychologe und Trauerspezialisten William Worden stammen die so genannten „Vier Aufgaben der Trauer“, die ich sehr hilfreich finde. Sie lauten:

  1. Die Wirklichkeit des Todes und des Verlustes begreifen (den Verlust zu realisieren braucht Zeit – und es braucht Menschen, mit denen man darüber reden kann, immer mal wieder)
  2. Die Vielfalt der Gefühle durchleben (auch widersprüchliche Gefühle…)
  3. Veränderungen in der Umwelt wahrnehmen und gestalten (Nach dem Tod eines nahen Menschen verändert sich die eigene Welt, es verändert sich aber auch das Verhalten von Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn…)
  4. Der/dem Toten einen neuen Platz zuweisen (Ich muss den Verstorbenen nicht vergessen, sondern er bekommt einen neuen, inneren Platz im eigenen Leben. Auch die Erinnerungen, ein Foto, das Grab etc. findet einen Platz im Leben.)

Interview: Charlotte Schrimpff

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