Gedanken eines Strafrichters zur Frage des „Neuanfangs“ von Dr. Christian Röthlin. Eine Interviewreihe.

Strafe als Ausgleich für die Schuld?
Der Glaube, die Last der Schuld und der Neuanfang

Strafe als Ausgleich für die Schuld?

Christian Röthlin: Im modernen Strafrecht tritt der (ursprüngliche) Schuld- und Sühnegedanke („Aug um Aug, Zahn um Zahn“) mehr und mehr in den Hintergrund. Vielmehr wird das Opfer immer mehr zur zentralen Gestalt des Strafprozesses und daneben kümmern sich eine Vielzahl von Experten um die Besserung des Täters („Resozialisierung“). Das ist natürlich für jede Gesellschaft ein wünschenswertes Ziel: dass der Täter sich abkehrt von seinem bisherigen „Täterleben“ und wieder einen Platz in der ordentlichen Gesellschaft findet. Der ursprüngliche Verein für Bewährungshilfe wurde zB in den Verein „Neustart“ umbenannt: das Ziel ist, dem Täter bei seinem Neustart zu helfen. Ein lobenswertes Unterfangen, das durchaus gewisse Erfolge zu verbuchen hat – aber nicht immer.

Der Täter, der ein Verbrechen verübt hat, weiß ganz genau, was er angestellt hat. Ein sehr hoher Prozentsatz der Angeklagten nimmt die Verurteilung und die damit verbundene Strafe an. Sie sind sich ihrer Schuld bewusst und wissen, dass die Konsequenz eine Geld- oder Freiheitsstrafe ist. Ich hatte in den über 20 Jahren als Strafrichter wiederholt den Eindruck, dass manche Täter nach ihrer Verurteilung die Strafe mit „Erleichterung“ annehmen, sozusagen als „Ausgleich“ für ihre „Schuld“. Natürlich trifft das nicht auf alle zu, aber auf manche.

Vielfach kommt neben der sachlichen Abhandlung einer Straftat aber auch die ganz persönliche Seite des Täters durch. Oft erklären mir Straftäter wörtlich: „Ich schäme mich so dafür!“ Die Scham als Ausfluss ihrer Schuld, die ihnen bewusst ist und ihnen konkret vor Augen steht. Und das ist dann ein Bereich, den das Strafrecht nicht lösen kann, nicht lösen will und auch nicht muss. Der persönliche Umgang mit Schuld, Scham und Verzweiflung hat im Strafrecht keinen Platz.

Der Glaube, die Last der Schuld und der Neuanfang

Röthlin: Da kommt nun die Psychotherapie oder der Glaube ins Spiel. Beides kann helfen, mit der persönlichen „Last“ umzugehen. Als Christ bin ich überzeugt, dass in der Beichte ein großer Schlüssel für einen Neuanfang jedes „Täters“ liegt, sei es ein gerichtlich verurteilter Straftäter oder ein „ganz normaler Mensch“, der zwar nicht im Sinne des Strafgesetzbuches, aber doch vor Gott, vor anderen Menschen oder vor sich selbst schuldig geworden ist.

Als ich vor ca einem Jahr im Rahmen eines Religionsunterrichts einem Schüler begegnete, der ein schweres Verbrechen begangen hatte, konnte ich ihm zusagen, dass ein „Neuanfang“ immer möglich ist, auch wenn er verurteilt und ins Gefängnis gesteckt wird. Denn ich glaube zutiefst, dass Gott jede Sünde, jede Schuld vergibt, wenn wir uns ihm zuwenden und seine Vergebung annehmen. Im Römerbrief beschreibt Paulus dies sehr schön: „Alle sind schuldig geworden und haben die Herrlichkeit verscherzt, die Gott ihnen geschenkt hatte. Aber Gott hat mit ihnen Erbarmen und nimmt sie wieder an. Das ist ein reines Geschenk. Durch Jesus Christus hat er uns aus der Gewalt der Sünde befreit.“ (Röm 3,23-24; Bibel in heutigem Deutsch).

Dieses Geschenk, nämlich dass Jesus für uns und unsere Sünden am Kreuz gestorben ist, darf jeder annehmen, ganz egal, ob er vor dem Strafrichter stand oder nicht. Somit ist ein Neuanfang immer möglich! Ein ehrliches Gebet im stillen Kämmerlein oder eine Beichte sind ein guter erster Schritt dazu.