P. Anselm Grün schreibt in seinem Brief "Einfach leben" über den Warteengel und lädt ein, durch einen Perspektivenwandel die Wahrnehmung und Deutung des Wartens positiv zu erleben - so wie es die Menschen in anderen Ländern gewohnt sind. Und er möchte uns ermutigen, im Augenblick zu sein.

Viele Menschen tun sich schwer, zu warten. Wenn sie im Supermarkt einkaufen, wechseln sie ständig die Warteschlange vor den einzelnen Kassen. Sie überlegen, ob es bei der einen Kasse zügiger geht als bei der anderen. Meistens nützt aber das Wechseln nichts.

Ärger statt Genuss
Die Ungeduld hat meist nur einen negativen Effekt: Die Betroffenen ärgern sich, wenn die Frau, die doch eigentlich nach ihnen kam, auf einmal früher fertig ist als sie selbst. Oder Autofahrer starren ungeduldig auf die rote Ampel und ärgern sich, wenn sie länger auf Rot bleibt, als sie sich das gedacht hatten.
Ganz gleich, wo sich Warteschlangen bilden, überall gibt es ein Gedränge, wächst die Ungeduld. In anderen Ländern ist das anderes. Die Engländer etwa sind es gewohnt, Schlange zu stehen. Sie nützen die Zeit, mit ihrem Nachbarn in der Schlange ins Gespräch zu kommen. Das ist für sie eher ein Ort, an dem man Kontakte genießt.

Das Warten gehört zu uns
Der Warteengel möchte uns unser Warten verwandeln. Er steht uns bei, damit wir das Warten als Gelegenheit nutzen, die uns geschenkt ist. Es könnte die Chance sein, inne zu halten und jetzt einfach im Augenblick zu sein. Der Warteengel ermutigt uns, die Mitwartenden wahrzunehmen, mit ihnen ein freundliches Wort zu wechseln. Vielleicht entsteht ein schönes Gespräch, das uns bereichert. Und dann kann es durchaus sein, dass wir es auf einmal bedauern, dass wir schon dran sind. Wir haben keine Zeit vergeudet, sondern etwas Wichtiges erlebt, indem wir uns auf die Situation eingelassen haben. Der Warteengel möchte unser Warten verwandeln.. Und er möchte uns zeigen, dass Warten zum Menschen gehört. Wir sind immer Wartende. Wir haben nicht alles, was wir brauchen. Wir sind seit unserer Geburt angewiesen auf andere Menschen, und wir sind in unserem Leben immer angewiesen auf Gott. Wir halten Ausschau nach dem, was unsere tiefste Sehnsucht erfüllt. So führt uns der Warteengel ein in die Kunst des Wartens und in die tiefere Bedeutung des Wartens, das ein Urbild für ns Menschen ist.

Ihr tägliches Ritual

Das Warten positiv erleben
Wenn du das nächste Mal in einer Warteschlange stehst – im Supermarkt oder vor einem Konzert an der Kasse – schimpfe nicht, drängle dich nicht vor. Versuche einfach, die Leute zu beobachten.

Stell dir vor, was die Frau vor dir denkt und fühlt, wie es ihr geht, wonach sie sich sehnt.
Beobachte den Mann hinter dir. Was bewegt ihn? Warum ist er so unruhig? Wohin möchte er? Kann er es bei sich nicht aushalten? Was täte ihm gut?

Dann versuche, all diese Menschen innerlich zu segnen, ihnen zu wünschen, dass sie in Frieden kommen mit sich selbst. Stell dir vor, dass Gottes Segen in diese Menschen einströmt und ihre Unruhe beruhigt, ihre Unzufriedenheit befriedigt und ihre Trauer erhellt.
Und sende mit dem Segen Gottes auch dein Wohlwollen zu den Menschen. Verurteile sie nicht, sondern sag dir – so wie Siddartha in dem Roman von Hermann Hesse – vor: Sie sind Kindermenschen, genauso wie ich. Im Innersten sind wir alle gleich.“
Dann wird du die Warteschlange nicht als negativ erleben. Du wirst dich eins fühlen mit all diesen Menschen. Und es wird dir gut gehen.

P. Anselm Grün. In:
Einfach leben – ein Brief von Anselm Grün. Februar 2011. Herder Verlag
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages durch Rudolf Walter
www.einfachlebenbrief.de