Gedanken zum 2. Fastensonntag

„Es gibt auch die Realität dieser kleinen, rosaroten Zyklame und des großen Horizontes, die man auch im Lärm und im Wirrwarr dieser Zeit immer wieder entdecken kann.“

Dies ist ein Zitat von Etty Hillesum. Ich möchte die nachfolgenden Ausführungen dieser bemerkenswerten Person widmen. Dabei muss auch Lärm und Wirrwarr ihrer Zeit zur Sprache kommen, sowie die Realität, der sie sich stellte, und die ihr alles abverlangte.

Biografisches …

Etty Hillesum, die am 15. Januar 2010 ihren 96. Geburtstag gefeiert hätte, war eine niederländische Schriftstellerin. Sie hatte Jus studiert und später mit Slawistik und Psychologie begonnen, war Intellektuelle, Jüdin und Opfer des NS-Regimes. Im Mai 1940 hatte Holland kapituliert. Die Nazis begannen umgehend mit dem Terror gegen die jüdische Bevölkerung. Knapp ein Jahr später im März 1941 begann die damals 27-jährige Etty mit Tagebuchaufzeichnungen, die sie bis zu ihrer Deportation fortführte. Das knapp anderthalb Jahre umspannende Tagebuch dokumentiert einen unglaublichen seelischen Reifungsprozess. Der letzte Teil des Tagebuchs ist nicht überliefert. Etty hat ihn mitgenommen nach Auschwitz, wohin sie mit ihrer ganzen Familie am 7. September 1943 deportiert wurde. Auf Deutsch sind ihre Tagebücher zum ersten Mal 1983 unter dem Titel „Das denkende Herz“ erschienen.

Warum Etty Hillesum? Warum erzähle ich von ihr?
Um dies zu erläutern, möchte ich sie erneut zitieren: „Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Flieder hinterm Haus – all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, all das hängt zusammen.“
Es ist diese Spannung, zwischen Freude und Leid, zwischen Befähigt-Sein und Ohnmacht, zwischen Leben und Tod, der sich wie ein roter Faden durch Werk und Leben dieser jungen Frau zog.

Im Ende die Zukunft erkennen

Von eben dieser Spannung berichtet auch das heutige Evangelium. Jesus steigt mit seinen Jüngern auf einen Berg. Dort kommt es zur Gottesbegegnung. Jesus erschien plötzlich verändert und die Jünger verspürten große Furcht. Petrus, Johannes und Jakobus wurden still, wurden wortlos. Sie wussten, dass etwas Großes geschehen ist, doch sie schwiegen. Obwohl sie mit ihren eigenen Augen gesehen hatten, dass Jesus in diesem besonderen Licht erstrahlte und ihre Ohren vernommen hatten, dass Gott ihn als seinen Sohn bekannt, konnten sie das Erlebte mit ihrem Verstand nicht erfasst, vielmehr wurden sie erfasst! Dieser Moment der Gottesbegegnung war für die Jünger irritierend und überfordernd. Sie wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten. Eine Veränderung hat stattgefunden, und Veränderungen verunsichern und können weh tun.

In diesem Augenblick größter Erhabenheit, als Gott den Menschen Jesus als seinen auserwählten Sohn bekennt, wird Jesus sein Ende prophezeit. Das nahende Leid wirft seine langen Schatten voraus. Und noch im selben Kapitel spricht Jesus selber davon, dass er ausgeliefert werden wird. Auch Etty weiß um ihr nahes Ende. Sie schreibt: „Gut, diese neue Gewissheit, dass man unsere totale Vernichtung will nehme ich hin. […] Ich werde den anderen mit meinen Ängsten nicht zur Last fallen, ich werde nicht verbittert sein, […]. Ich arbeite und lebe weiter mit derselben Überzeugung und finde das Leben sinnvoll, trotzdem sinnvoll.“ Sie verstand, dass Sie den Tod ins Leben integrieren musste, dass das Wissen um unsere Vergänglichkeit unser Leben bereichert. Denn es unterstreicht die Einmaligkeit von Begegnungen und Erlebnissen und trägt uns auf Momente bewusst wahrzunehmen.

In äußerer Bedrängnis auf die innere Stärke vertrauen

Es sind diese Extremsituationen, die Höhepunkte und Rückschläge, die wir brauchen, um zu uns zu finden. Auch, wenn die Auseinandersetzung mit sich selber keine leichte ist. Alte Wunden, die eigenen Unzulänglichkeiten und Ungeduld fordern uns Tag für Tag heraus. Doch an Grenzen erkennen wir uns selbst.
Abraham war in der Wildnis. Er war von Zweifeln geplagt und hatte Angst – in eben dieser Situation kommt es zur Gottesbegegnung. Jesus war am Höhepunkt und auch bei ihm kam es zu einer Erfahrung, die seine Lebenswirklichkeit entscheidend veränderte.

Wenn Etty die Situation im Lager schildert, so vollzieht sich auch bei ihr ein Wandel. Die Lebensumstände waren unvorstellbar beklemmend, und trotzdem schreibt sie: „Das Schwere hat sich, sobald ich mich bereit erwies, es zu tragen, wieder in Schönes verwandelt.“ Und weiter: „Ein kleines Stück Himmel wird wohl immer zu sehen sein […].“
Sätze wie diese, sind Ausdruck ihres Vertrauens und ihres überzeugten „JA“ zum Leben. Natürliche kannte sie auch die „kargen Zeiten“ im Glauben. Jene Momente, wo einen Zweifel plagen und man die Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins hinterfragt. Doch sie verharrte nicht in diesem Gefühl, sondern ging weiter, in gelassener Ergebenheit. Sie bezeichnet sich an einer Stelle als „Wandernde an Gottes Hand“ auf einem Weg, der mit „Güte und Vertrauen gepflastert“ scheint.

Jemand, der trotz allen Wirrwarrs die Schönheit einer kleinen Blume erkennt und über mächtige Berge, oder die Weite des Horizontes zu staunen vermag, sieht die Welt in einem anderen Licht. Ein Licht, dass wie im Moment der Verklärung des Herrn Schatten zulässt. Ein Licht das uns dennoch ermöglicht in der Angst an die Freude, in der Hilflosigkeit an Geborgenheit und im Sterben an das Leben zu glauben.

Verena Brunner
EthikCenter, Umweltbeauftragte der Diözese Feldkirch