Geschämt hat sich schon ein/e jede/r, darügesprochen darüber aber kaum eine/r. Die Katholische Kirche Vorarlberg hat das tabuisierte Gefühl Scham aus der Versenkung geholt und es zum Thema beim Herbstsymposion in St. Arbogast gemacht. An die 130 Mitarbeiter/innen informierten sich über Ursachen, Auswirkungen und den würdevollen Umgang mit Scham.

Für so Manchen war es wohl überraschend, dass gerade das Thema Scham im Mittelpunkt stand. Auch Bischof Benno stutzte im ersten Moment, wie er in der Eröffnungsrede bekannte - doch dann sei ihm klar geworden: „Scham ist ein entscheidendes Thema, denn sie gehört zum Kern des Lebens. Sie betrifft die Würde des Menschen.“ Die Würde des Menschen müsse geachtet und geschützt werden - womit man ganz nahe bei der Theologie, nahe bei der Bibel sei. Dieser Bezug und die Tatsache, dass man in der Seelsorge und im Religionsunterricht immer wieder auf Scham stößt, sorgten schließlich dafür, dass trotz anfänglicher Überraschung zahlreiche Priester, PastoralassistentInnen, ReligionslehrerInnen, Diakone sowie haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter/innen am Herbstsymposion in St. Arbogast teilnahmen.

Aus dem Weg gehen

So oft versteckt sich die Scham, die von Bischof Benno als wertvolles und lebenswichtiges Gefühl beschrieben wurde. Sie wird unterdrückt, aber auch in Anderes umgewandelt: in Aggression, Arroganz, Zynismus zum Beispiel - mit dem dann andere beschämt/gekränkt werden. Oder man geht Situationen, in denen man sich schämt, aus dem Weg: So wurde etwa die Geschichte eines Schülers erzählt, der während des Stimmbruchs vorsingen musste, von den MitschülerInnen ausgelacht wurde und in seinen folgenden Lebensjahrzehnten nicht mehr gesungen hat.
Mit Selbstwert und Selbstvertrauen hat die Scham zu tun. Wer sich seiner sicher ist, gerät weniger in eine Situation, die einen beschämt. Psychologisch gesehen ist die Scham die Differenz zwischen Sein und Sollen: Wenn wir uns auf eine gewisse Weise verhalten oder etwas erreichen sollten, dies aber nicht gelingt, dann schämen wir uns. Manche Menschen greifen zu scheinbaren Hilfsmitteln, um gewünschte Verhaltensweisen oder Ziele zu erreichen: zu Alkohol zum Beispiel, um Unsicher- oder Schüchternheit zu bekämpfen, zu Aufputschmitteln, um eine sportliche oder geistige Höchstleistung zu verwirklichen. Und schon kann die Sucht winken - die wiederum ein Teufelskreislauf ist: „Ich trinke, weil ich mich schäme. Und ich schäme mich, weil ich trinke“, lässt Saint-Exupéry den Trinker in „Der kleine Prinz“ sagen.  

Fehler nicht thematisieren?

Aus verschiedensten Blickwinkeln wurde die Scham betrachtet, fünf Personen aus unterschiedlichen kirchlichen Tätigkeitsfeldern erzählten am Podium von ihren beruflichen Erfahrungen. Schule war u. a. ein großes Thema; jahrhundertelang war sie ein Ort, in dem sehr viel Beschämung stattgefunden hat: in die Ecke stellen, schlagen, schimpfen. Mittlerweile bewegt sich die Pädagogik in die andere Richtung, glücklicherweise. Doch führt dies manchmal nicht dahin, dass ein Fehlverhalten oder ein Fehler gar nicht mehr thematisiert werden? Darf man heute noch zu jemandem sagen „Schäm dich“?
Antworten darauf lieferte Hauptreferent Dr. Stefan Marks, Sozialwissenschaftler und Autor, der seit vielen Jahren zu den Themen Scham und Menschenwürde arbeitet. Er erzählte die Geschichte des kleinen Lukas, der bei Oma zu Besuch war, und sie so lange schlug, bis sie rief: „Hör auf, du tust mir weh!“ Lukas schämte sich und suchte Trost bei Opa. Dieser sagte ihm, er brauche sich nicht zu schämen. „Das war falsch“, erklärte Stefan Marks. „Scham ist eine Entwicklungschance für moralisches Bewusstsein“. Opa hätte sagen sollen, er wisse selbst, wie das mit dem Schämen sei und dem Kind Platz geben, dies zu tun.

Scham bleibt

Entschämung: Dieses Wort gibt es - im Gegensatz zur Entschuldigung - nicht. Schuld kann vergehen, Scham bleibt, verdeutlichte der Referent. Das ist nicht per se schlecht, denn: Wird man sich der Scham bewusst und wird sie angenommen, kann sie neue Energie bringen, kann sie eine verwandelnde Kraft darstellen. Dazu die Geschichte eines US-amerikanischen Kriegsveteranen, der in Vietnam Frauen und Kinder getötet hatte. Als er wieder nach Hause kam, konnte er mit seinem schlechten Gewissen, seiner Scham, kaum leben und wollte es beenden. Er begab sich dann jedoch in Therapie und arbeitete danach im sozialen Bereich. Er half anderen Menschen als Bewährungshelfer und konnte so weiterleben. Ein weiteres Beispiel, ein wenig näher an unserer Realität in Vorarlberg: In den sozialen Medien wimmelt es von Posts, die bezeugen, wie gut man aussieht, wie toll die Arbeit ist, wie wunderbar der Urlaub war etc. Manchmal stimmt dies gar nicht, doch man schämt sich zuzugeben, dass das eigene Leben nicht perfekt ist. Erzähle ich hingegen jemanden, dass es bei mir gerade nicht so gut läuft, entwickeln sich tiefere Gespräche - ja, dem anderen geht es vielleicht ebenso, und so wird eine Verbundenheit geschaffen.

Vier Formen

Abschließend erklärte Stefan Marks, dass vier Grundformen der Scham zu unterscheiden seien. Alle vier Arten sind übrigens uralte Herrschaftsmittel, um Menschen zu beschämen, sie in Folge gefügig zu machen und sie zu unterdrücken.

  • Menschen brauchen Anerkennung wie die Luft zum Atmen; wird dieses Grundbedürfnis verletzt, können Schamgefühle zurückbleiben. Positiv gewendet, bedeutet das: Will man jemandem Scham ersparen, schenkt man ihr/ihm Anerkennung.
  • Zugehörigkeit ist ebenfalls ein Grundbedürfnis des Menschen. Wird jemand als „anders“ markiert und ausgegrenzt, beschämen wir diese Person. Umgekehrt vermeiden wir Scham, wenn wir Zugehörigkeit vermitteln.
  • Wenn ein Mensch seinen eigenen Werten nicht gerecht wird, schämt er/sie sich vor sich selbst. Man kann jemanden also mit Scham erfüllen, wenn man ihn/sie zwingt, gegen das eigene Gewissen zu handeln. Einen Menschen nicht in Gewissenskonflikte zu bringen, kann hingegen Scham ersparen.
  • Scham entsteht, wenn schützende Grenzen - körperlich oder seelisch - verletzt werden. Wer einen Menschen nicht (weiter) beschämen will, muss ihm einen Raum zur Verfügung stellen, in dem er Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität erfährt.