Philipp Supper, Referent des Bischofs, über Geschwisterlichkeit im Großen und Ganzen wie im Kleinen. Die neue Enzyklika "Fratelli tutti".

Ein Großimam als Inspirationsquelle, Geschwisterlichkeit und Nächstenliebe als politisches Programm: In der neuen Enzyklika Fratelli tutti entwirft Papst Franziskus seine Vision des globalen Zusammenlebens. Ein Grundtenor: Wir alle stehen in der Verantwortung.

Wenn Papst Franziskus zur Feder greift, kann es sein, dass er eine unbequeme Botschaft loswerden muss. So geschehen bei Evangelii gaudium, als er einen neuen missionarischen Eifer in der Kirche entfachen wollte. So geschehen auch bei seiner in hohem Maße prophetischen Schrift Laudato si‘, die die Schöpfungsverantwortung für alle Glaubenden zur Pflicht erhob. In seinem neuesten Schreiben, der Enzyklika Fratelli tutti, die ebenso wie Laudato si‘ ein Zitat des hl. Franz von Assisi im Titel führt, entwirft der Papst das Bild einer Welt, in der eine Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft jenseits aller Grenzen und nationalistischer Zersplitterungen das Zusammenleben kennzeichnen.

Geschwisterlichkeit – das hat Franziskus eigentlich bereits in den Mittelpunkt gestellt, als er sich am Tag seiner Wahl am 13. März 2013 vor den Menschen auf dem Petersplatz verneigt und sie um ihren Segen gebeten hat. Geschwisterlichkeit präsentiert der Bischof von Rom nun auch als Antwort auf verschiedene negative globale Entwicklungen wie Populismus, Rassismus und Nationalismus, die die gegenwärtige Pandemie noch verstärkt hat. Alle Menschen unabhängig von Herkunft, sozialem Status oder religiösem Bekenntnis sind miteinander verbunden und tragen gemeinsam Verantwortung für die Welt.

Eine Menschheitsfamilie

Franziskus hat in seiner Enzyklika das große Ganze des Weltsystems im Blick, dem er im Geiste der Geschwisterlichkeit eine neue Form geben möchte. Deshalb fragt sich auch: Was kann davon im Kleinen in unseren Familien, Gemeinden und Gemeinschaften, vor allem aber vor unseren Haus- und Kirchentüren bereits jetzt realisiert werden?

Eine der stärksten Passagen und zugleich wie eine Keimzelle der ganzen Enzyklika ist für mich eine Betrachtung des Barmherzigen Samariters (Nr. 56-86). Das Handeln dieser biblischen Figur nimmt der Papst als Beispiel, wie er sich die neue Weltordnung vorstellt: Nicht fragen, wer meine Nächste/mein Nächster ist; nicht überlegen oder kalkulieren, ob es sich auszahlt zu helfen, sondern einfach handeln. Die Grenzen zwischen „uns“ und „den Anderen“, von Innen und Außen werden hier durchgestrichen und der Raum geöffnet, um den Menschen als Menschen in seiner Not und Bedürftigkeit wahrzunehmen. Das Gleichnis macht den Gedanken der einen Menschheitsfamilie auf unüberbietbare Weise stark. 

"Wir sind für die Liebe geschaffen“

Vor ziemlich genau einem Jahr hat das Diözesanforum stattgefunden. Mir ist noch der Satz von Cesare Zucconi im Ohr, der in seinem Vortrag gesagt hat: „Seid Realisten, fordert das Unmögliche.“ Die Gemeinschaft Sant’Egidio hat gezeigt, was möglich ist, wenn Spiritualität und Solidarität, Mystik und politisches (freilich nicht parteipolitisches) Engagement, Gottes- und Nächstenliebe miteinander verbunden werden. „Wir sind für die Liebe geschaffen“, heißt es in Fratelli tutti (Nr. 88): eine Liebe, die eine Atmosphäre der Menschlichkeit in der Gesellschaft wach hält, den eigenen Egoismus aufbricht und Gott mitten im Alltag sichtbar macht. Dieses Programm hat etwas Gewinnendes. Wie viel Großes könnte entstehen, wenn wir dieser Glut des caritativen Engagements in unseren Pfarren und Gemeinschaften mehr Raum geben würden?

Man spürt an vielen Passagen, dass diese neue Enzyklika ihre Wurzel hat in der Begegnung mit Leidenden, Geflüchteten und Menschen anderer Religionen. Sie spricht Klartext und zeigt einen Weg auf. Das, was sie im Großen fordert, gilt es in der mühsamen Kleinarbeit des Dialogs und des Aufeinander-Zugehens täglich in die Tat umzusetzen.