Predigt von Generalvikar Dr. Benno Elbs zum Tag der Heiligen Familie, gehalten am 27. Dezember 2009 in Feldkirch-Tisis.

Lassen Sie mich mit einer Weihnachtsgeschichte beginnen:

Die Geschichte spielt kurz vor Heilig Abend. Der Mesner hatte bereits die Krippe in der Kirche aufgestellt. Als er abends die Tore schloss, stellte er fest, dass der heilige Josef verschwunden war. Er suchte ihn, doch er konnte ihn nirgendwo finden. Als er am nächsten Tag wiederum seinen Kontrollgang durch die Kirche machte, traute er seinen Augen nicht: auch die heilige Mutter Maria fehlte nun aus der Krippe.

Anstelle der beiden entdeckte der Mesner bei genauer Nachschau einen Zettel beim Kind in der Krippe: "Liebes Christkind! Wenn du deine Eltern wieder haben willst, dann sorge dafür, dass ich die gewünschte Playstation bekomme. Der Entführer."
Eine humorvolle Weihnachtsgeschichte. Eine tiefe Aussage. Der kleine Entführer kennt die empfindlichste Stelle des Christkinds. Es ist der Verlust seiner Eltern, seiner Familie.

Damit kommen wir zum Zentrum des heutigen Themas, der Familie.

Von vielen wird die Familie als Patient bezeichnet. Das häufige Zerbrechen von Beziehungen, die Scheidungsrate, der Rückgang an Trauungen, an kirchlichen Trauungen, das gefährliche Sinken der Kinderzahl.

Und auf der anderen Seite ist die Familie der Inhalt, das Ziel einer großen Sehnsucht. Wenn man z. B. die moderne Shell-Studie hört, dann ist es so, dass die Familie den Menschen Halt gibt. ¾ der Jugendlichen, 73 % der 18- bis 21-Jährigen leben in Deutschland noch bei ihren Eltern. 90 % der Jungen bekunden, gut mit ihren Eltern auszukommen. 73 % würden auch ihre eigenen Kinder so oder ähnlich erziehen wie ihre Eltern.

Familie ist, so gemeint, ein Begriff für die tiefe Sehnsucht des Menschen, ein Zuhause zu haben. Ich möchte Sie einladen, dass wir dieser Sehnsucht nachgehen auf dem Hintergrund der heutigen biblischen Texte.

Erstens, glaube ich, ist die Familie der Begriff für die Sehnsucht, gut erwachsen werden zu können.

Das vergangene Jahr war für mich geprägt von zwei berührenden Erfahrungen. Am Vormittag die Beerdigung einer jungen Frau, die sich das Leben genommen hat. Über ein Jahr hatte sie den Kontakt mit ihrer Familie abgebrochen und sich in ihre Einsamkeit zurückgezogen. Allein. Verzweifelt.

Dann eine Veranstaltung im Krankenhaus Stiftung Maria Ebene. Ein Therapeut erzählt von einem Gespräch mit jugendlichen Drogensüchtigen. Sie reden darüber, was denn das Gegenteil von Sucht ist. Die jungen Menschen sagen, das Gegenteil von Sucht ist Genuss. Dann die Frage: Was ist der größte Genuss im Leben eines Menschen? Eine junge drogenkranke Frau sagt: In der Liebe eines Menschen geborgen sein. Das ist der größte Genuss des Lebens. Und diese große Sehnsucht, glaube ich, brennt wohl im Herzen eines jeden Menschen, in der Liebe eines anderen Menschen geborgen zu sein.

Das ist die eine Seite. Dann erleben wir im heutigen Evangelium eine andere Seite, die aus heutiger Sicht ein Skandal ist. Jesus verschwindet 3 Tage. Er wird nicht gefunden. Ich denke an das Polizeiaufgebot, welches dies heute zur Folge hätte, die Suchaktionen, die Medienberichte, die Krisenintervention. Verständlich ist dann die angestaute schmerzvolle Angst, aus der heraus die Eltern zu Jesus sagen: Kind, wie konntest du uns das antun? Aber hier zeigt sich eine große Frage, ein großes Thema einer christlichen Familie. Warum kommen uns die Kinder plötzlich so gründlich abhanden und lassen die Eltern verzweifelt zurück? Eltern müssen mit ansehen, dass ihre Kinder in einer eigenen Welt leben, zu der sie keinen Zugang haben. Zudem tun die Kinder so, als ob das ganz selbstverständlich sei. Warum habt ihr mich überhaupt gesucht?

Ich glaube, hier kommt auch ein Gedanke christlicher Spiritualität in die Familie. Kinder sind Gäste. Sie kommen in unser Leben als Familie, aber sie gehen auch wieder. Wir können sie nicht aufhalten.

Wie Kahlil Gibran es einmal sagt: Sie sind wie ein Pfeil des Lebens, der in die Welt hinausgeschossen wird, die Eltern geben ihm die Energie, dass dieser Pfeil fliegen kann. Wie sich der Flug gestaltet, liegt nicht mehr in der Hand des Schützen. Ich glaube, die Sehnsucht, gut erwachsen werden zu können, geschieht in dieser Spannung. In dieser Spannung vollzieht sich das Erwachsenwerden. Die gleichzeitige Geborgenheit und die Freiheit ist die Kunst des Liebens.

Zweitens - Familie meint die Sehnsucht, dass jemand uneingeschränkt JA zu mir sagt.

Wir wissen es alle, oft werden wir im Leben nach Äußerlichkeiten beurteilt, nach Ansehen, nach gesellschaftlicher Stellung, nach Titel, nach Geld. Und es gibt wohl wenige Menschen, die wirklich JA zu uns sagen, mit unseren Stärken, mit unseren Grenzen und Ängsten, mit unserer Traurigkeit und mit unserer Freude und Ausgelassenheit, mit unseren guten Erfahrungen und mit unseren Krisen und Konflikten.

Oft ist dieses JA an Bedingungen geknüpft, an Leistung, an Erwartung.

Ich erinnere mich hier an eine nette Erfahrung bei einer Trauung. Die Braut war sehr nervös. Und normalerweise sagt man ja bei der Hochzeit: Ich will dich lieben, achten und ehren, solange ich lebe. Und diese Braut hat dann gesagt beim Trauungsspruch: Ich will dich lieben, achten und ehren, solange ich dich liebe. Ich glaube, die Familie ist der Ausdruck der Sehnsucht, dass jemand JA zu mir sagt für immer. Es gibt ein Recht dazuzugehören. Ohne Vorleistung und ohne Bedingung. Das ist schon ein Grundsatz der systemischen Familientherapie. Familie meint also - das zweite - die Sehnsucht, dass jemand JA zu mir sagt.

Drittens - die Familie ist die Sehnsucht der älteren Menschen nach einem Ort, wo ich gut alt werden kann.

Hier, liebe Freunde, begegnen wir einer der großen gesellschaftlichen Fragen, die nämlich Kardinal Martini schon gestellt hat:
Werden die Kinder ihre Eltern so aus der Welt begleiten können, wie die Eltern ihre Kinder zur Welt bringen?

Die Generationenbeziehungen zwischen älteren und jüngeren Menschen sind die ganz entscheidende Frage. Zwei Erfahrungen haben mich hier sehr berührt. Das eine ist die Begegnung mit einer alten Frau im Altersheim, die mir ihren Kalender gezeigt hat, und in diesem Kalender täglich den Eintrag hatte: Niemand war da.

Oder ich denke an die Menschen in Holland. Es gibt dort die Erfahrung, dass viele, die an der Grenze zu Deutschland leben, lieber in ein Altenheim in Deutschland gehen, weil sie dort die Sicherheit haben, nicht der aktiven Sterbehilfe zu verfallen, weil die in Holland ja sozusagen in der großen Freiheit erlaubt ist.

Was sind das für Aussagen? Es läuft hier einem kalt über den Rücken.

In der heutigen Lesung in der Bibel wird hier eine wertvolle Hinweistafel aufgestellt. Du sollst Vater und Mutter ehren, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.

Es geht hier um drei Dinge.

Die älteren Menschen in unserer Gesellschaft haben kostbare Schätze. Die erste Kostbarkeit: Die älteren Menschen haben es selten eilig. Das ist ein echter Schatz für uns alle. Es ist die Medizin gegen Wahnsinn und Infarkt. Alter, Gebrechlichkeit zwingen zur Geduld und zur Langsamkeit. Ein Zeichen für unsere Gesellschaft, die in Gefahr ist, an der Geschwindigkeit zu erkranken. Es wird zu schnell gefahren, zu schnell gegessen, schnell wird gestritten, schnell wird geliebt, schnell wird gehasst, schnell wird geschieden.

Ein zweiter großer Schatz des Alters und der Alten ist die Güte. Davon wissen besonders die Enkelkinder ein Lied zu singen. Großeltern wissen eben aus der Erfahrung, dass Erziehung nicht sehr viel bringt, Güte aber bringt alles. Sie wissen wohl genau, dass Kinder nur durch das gute Beispiel lernen. Das gute Beispiel ist die beste Predigt. Und deshalb sind die alten Menschen in der Gesellschaft der Ankerplatz der Kinderherzen, und sie sind der Halt unserer Kids.

Und der dritte Schatz, den alte Menschen in unserer Gesellschaft uns geben: Sie schenken und verschenken. Sie fragen ihre Kinder und ihre Enkelkinder nicht nach dem Gegenwert, den sie bekommen. Sie haben längst erkannt, dass man sich im Leben nichts verdienen kann und dass das ewige Kaufen und Verkaufen, Handeln und Schachern nicht von gutem Geist sein kann. Großeltern geben oft mit offenen Händen - so, als ob der Herbst des Lebens goldene Schatten wirft und ein Wissen in den Herzen der Alten aufleuchtet, dass das ganze Leben wohl ein einziges Geschenk war und ist.

Christliche Familie ist ein Sakrament, sie ist ein Zeichen der Anwesenheit Gottes, der Beziehung Gottes zu den Menschen.

Und so ist, glaube ich, die christliche Familie das große gelebte JA Gottes zu den Kindern und Jugendlichen für ihre gute Entfaltung.

Das JA Gottes zu den Erwachsenen, die sich nach diesem JA sehnen, nach Aufmerksamkeit, nach Achtung, Wertschätzung.

Das JA Gottes zu älteren Menschen, die ein großer Schatz sind für die Gesellschaft und die Geheimnisse Gottes und des Lebens kennen.

Familie ist die große Antwort des Lebens, die große Antwort Gottes auf die tiefe Sehnsucht des menschlichen Herzens, dass jemand JA zu mir sagt.

Eure Pfarrgemeinde, die Pfarre zur Hl. Familie, möge immer - wie in den bisherigen 50 Jahren - ein Ort sein, der an den Wert der Familie erinnert. Sie sei eine Anwältin für das große JA Gottes zu uns Menschen, gelebt in unseren Familien.

Gott segne Eure Pfarrgemeinde!