Der neue Film von Alice Rohrwacher ist eine Sozialstudie und eine moderne Heiligenlegende. Und selbst so etwas wie ein Wunder.

Klaus Feurstein

Ausbeutung im 20. Jahrhundert

Die Menschen in Inviolata schuften wie Leibeigene für die Marquesa Alfonsina de Luna, eine Tabakfabrikantin. Die Handlung ist zunächst andeutungsweise im 20. Jahrhundert angesiedelt. Es herrschen jedoch Zustände wie im Feudalismus. Pure Ausbeutung bestimmt den Alltag der Arbeitenden. Aber selbst bei ihnen gibt es eine Rangordnung, an dessen Ende der junge Lazzaro steht. Er ist auf der sozialen Stufenleiter ganz unten, denn er wird sogar von den eigenen Leuten ausgebeutet.

Der Ruf nach Lazzaro durchzieht die ganze erste Hälfte dieses Films. Lazzaro tu dies, hol jenes! Er muss alles wegarbeiten und tut dies mit dem immer gleichen freundlichen Gesicht, den anderen zugewandt, arglos und wie selbstverständlich. Lazzaro ist der Einzige, der niemand unterdrückt, denn er ist so voller Herzensgüte, dass er dazu gar nicht in der Lage ist. „Er steht auch für eine politische Utopie. Denn seine bedingungslose Hingabe durchbricht die Logik des Marktes, die auf Tausch basiert. Sie verlangt nichts.“ (filmdienst)

Was ist ein Heiliger?

Lazzaro erinnert an einen Heiligen, man könnte an franziskanische Ideale denken, Pasolinis clowneske Figuren („Kleine Vögel, große Vögel“) oder an den Narr in Christo. Er läuft durch die Welt wie ein Opferlamm. Er durchquert eine Geschichte der Bosheit und Unterdrückung und ist dabei so naiv, dass er diese gar nicht bemerkt. Der Heilige ist irgendwie auch ein Idiot. Aber nur durch ihn leuchtet kurz so etwas auf wie die Idee, dass alle Menschen glücklich sein könnten.

Ausbeutung in der Gegenwart

Im zweiten Teil finden wir uns in der italienischen Gegenwart wieder: Geflüchtete sind zu sehen und die Menschen von Inviolata leben nach ihrem Exodus aus der Leibeigenschaft in der Stadt, das heißt an der Peripherie und im Prekariat. Mit Kleinkriminalität fristen sie ein kärgliches Dasein. Und da taucht unvermittelt Lazzaro bei ihnen auf, mit der alten Arglosigkeit und seiner unendlichen Selbstlosigkeit, die keiner Begründung bedarf. Er verändert damit die Leute.

Homo homini non lupus

Er zeigt, wie der Mensch dem Menschen eben kein Wolf sein muss. Das Tier im Film, dem auch die Schlussszene gehört, erinnert an den von Franziskus gezähmten Wolf von Gubbio, dessen Geschichte von Antonia etwas verändert erzählt wird. Und ein zweites Wunder passiert: Die Orgelmusik zieht aus einer prächtigen Kirche zu den Armen auf die Straße. Das größere Wunder ist schon im Übergang vom ersten zum zweiten Teil geschehen. So versteht man auch, warum die Titelfigur Lazarus heißt.

Eine große Regisseurin

Mit „Glücklich wie Lazzaro“ gewann die italienische Filmemacherin Alice Rohrwacher dieses Jahr im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes den Preis für das beste Drehbuch, nachdem sie 2014 schon für „Land der Wunder“ mit dem Jurypreis ausgezeichnet worden war. Ihre Schwester Alba spielt eine der Hauptrollen in „Lazzaro“. Im Nachwirken von Pasolinis „Kino der Poesie“ nähert sich Rohrwacher den gesellschaftlichen Themen: Migration und Landflucht, dem Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft.

Der Film der erst 36 Jahre alten Regisseurin wurde von der Kritik überschwänglich und unisono gelobt, als ein Werk, das ähnlich wie der Titelheld nicht ganz von dieser Welt ist und doch mehr mit ihr zu tun hat als vieles, was sich realistisches Kino nennt: fast ein Wunder.

„Glücklich wie Lazzaro“ in Vorarlberg

Taskino Rio, Feldkirch
Mo 19.11.18, 18:00 Uhr
Di 20.11.18, 20:30 Uhr
Mi 21.11.18, 18:00 Uhr
Do 22.11.18, 20:30 Uhr

Lazzaro felice - Glücklich wie Lazzaro von Alice Rohrwacher, Italien 2018, 125 Minuten, italienisch mit deutschen Untertiteln.

Verein allerArt, Remise Bludenz
05.12.18, 19:00 Uhr

Weitere Informationen zum Film