In Bezug auf Dramatik, Anspruch und formale Souveränität übertrifft Jan Komasas „Corpus Christi“ alle anderen polnischen Filme des Jahre 2019 und ist nach Pawel Pawlikowskis „Ida“ (2013) und „Cold War“ (2018) auch international höchst erfolgreich.

Klaus Feurstein

Ein falscher Priester

Der 19-jährige Daniel wird aus einer Jugendstrafanstalt in Polen entlassen. Anscheinend ist jemand seinetwegen ums Leben gekommen. Während des Gefängnisaufenthalts trifft er auf einen charismatischen Seelsorger und findet durch ihn zur Religion. Bei den Gottesdiensten ist er sein Ministrant und singt mit wunderschöner Stimme den Psalm 23. Eigentlich möchte er Priester werden, aber als Krimineller ist ihm dieser Berufswunsch kategorisch verwehrt.
„Ihr seid alle Priester Jesu“, sagt der Gefängnisseelsorger in einer Predigt zu den Häftlingen und vertritt damit die Vorstellung des allgemeinen Priestertums der Getauften.

Daniel sollte nach der Entlassung in einem Sägewerk in einem polnischen Provinzdorf arbeiten. Dort erzählt er einer jungen Frau eher im Scherz, dass er Priester sei und zieht als Beweis ein Kollar aus der Tasche. Als der betagte Ortspfarrer für einige Zeit die Gemeinde verlässt, übernimmt der vermeintliche Jungpriester dessen Stelle. Und er hat Erfolg, indem er vieles von dem, was er beim Gefängnisgeistlichen gehört und gesehen hat, übernimmt und sich zu eigen macht. Aber vor allem sein unkonventionelles, natürliches Zugehen auf die Menschen wirkt überzeugend.

Das Trauma

Mitten im Dorf befindet sich eine Wand mit Fotos von jungen Menschen, die bei einem Verkehrsunfall tragisch verunglückt sind. Täglich treffen sich die Angehörigen dort zum gemeinsamen Gedenken. Ein Bild fehlt allerdings: das des Mannes, der den Unfall verursacht hat. Ihm verweigert die Gemeinde sogar das Begräbnis. Daniel versucht nun zusammen mit der Schwester eines Opfers die Trauernden zu bewegen, die Urne des Unglückslenkers kirchlich beizusetzen. Sie halten dies für einen schwierigen, aber notwendigen Schritt im Prozess der Versöhnung, stoßen dabei allerdings auf eine Mauer des Widerstandes.
Daniel ist die Verkörperung des priesterlichen Wirkens, auch wenn ihm die formalen Voraussetzungen fehlen. Er ist die Verkörperung des Christus, auch wenn er nicht ohne Sünde lebt. Er ist der „Corpus Christi“, seine Realpräsenz im Hier und Jetzt und im wörtlichen Sinn.
Der Film endet auf überraschende und fast verstörende Weise gewalttätig, trotzdem lässt er Raum für Hoffnung auf einen Neubeginn.

Formale Strenge

Jan Komasa inszeniert den Film in formaler Strenge ohne Kamerabewegung und Musik. Die Farben sind überwiegend kalt, nahe am Schwarz-Weiß. Erst mit der Fronleichnamsprozession (Fronleichnam heißt auf Lateinisch und Spanisch „Corpus Christi“) kommt Buntheit auch mit Rot- und Gelbtönen vor. Manche Rezensenten erinnert die Inszenierung nicht ohne Grund an den großen katholisch mystischen Franzosen Robert Bresson, der 1950 mit dem „Tagebuch eines Landpfarrers“ nach dem Roman von Georges Bernanos und 1962 mit „Der Prozess der Jean d´Arc“ wegweisende religiöse Filme gedreht hat.

Mit Preisen überhäuft

„Corpus Christi“ wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und erhielt unzählige Preise, er lief auf über 60 Festivals und wurde für den Auslands-Oscar nominiert. Besonders beeindruckend ist die schauspielerische Leistung des Protagonisten, der den jungen Daniel in der ganzen Bandbreite von kühler Zurückhaltung bis leidenschaftliche Ekstase auf die Leinwand bringt. Dieser Widerspruch, der Seiltanz zwischen der mühsamen Bändigung der eigenen Emotionen und deren Ausbruch, zwischen Zartheit und Brutalität, Stille und Schrei, macht die Figur facettenreich und ihre Entwicklung unvorhersehbar.

„Corpus Christi“ von Jan Komasa, Polen 2019, 115 Minuten, zu empfehlen ab 16 Jahren.