Mit fast 50 Jahren Verspätung kommt der Film "Amazing Grace" nun durch die neue digitale Technik in die Kinos.

Klaus Feurstein

Wann besuchten Mick Jagger und Keith Richard das letzte Mal einen Gottesdienst in einer christlichen Kirche? Vermutlich im Januar 1972, als in der New Temple Baptist Church in Los Angeles das Album „Amazing Grace“ mit Aretha Franklin aufgenommen wurde, das zur meistverkauften Gospelplatte aller Zeiten avancierte.

Neue Technik

Auf dem erst kürzlich erschienen Film von Sidney Pollack, der die Aufnahme dokumentiert, sind die Rolling Stones jedenfalls einige Male im Publikum auszumachen. Zur Entstehungszeit betrachteten die Filmemacher das Material als unbrauchbar, da Bild- und Tonspur nicht zusammengebracht werden konnten. Erst 2018 wird dies durch die neue digitale Technik möglich, und so kommt der Film mit fast 50 Jahren Verspätung – besonders auf die Initiative des schwarzen Filmemachers Spike Lee – jetzt in die Kinos.

Ein Life-Album

So können wir minutiös der Entstehung dieses legendären Albums beiwohnen, das an zwei Abenden hintereinander aufgenommen wird. Reverend James Cleveland, selbst Gospelsänger und Lehrer von Aretha Franklin, fungiert als eine Art Conférencier und was in Freikirchen als Gottesdienst gilt, wirkt für europäisch-katholische Augen eher als Show. Aretha wollte auf jeden Fall „Amazing Grace" in einer Kirche mit gläubigem Publikum im Rahmen eines Gottesdienstes aufnehmen und nicht im Studio. Da sind die Zwischenrufe zu hören, ein Song braucht mehrere Anläufe, vor allem aber gibt es die körperlichen Reaktionen des Publikums: Der Chor gerät in Ekstase, viele schwitzen unter den heißen Lichtern, es wird getanzt, gebetet und Zeugnis abgelegt. Dieser Life-Charakter hat wahrscheinlich wesentlich zum Erfolg beigetragen.

Der berühmte Titel

„Amazing Grace“, der Song, der dem ganzen Album den Namen gibt, und im Film genau in der Mitte gespielt wird, ist eigentlich ein altes, englisches Kirchenlied. Entstanden ist es, als der Kapitän eines Sklavenschiffs samt Besatzung aus einer Seenot gerettet wurde und sich vom Sklavenhalter zum -befreier entwickelte. Zunächst von der afroamerikanischen Gospelszene übernommen, wurde es schließlich zur Hymne vieler Menschenrechtsaktivisten und zum Beispiel von Präsident Obama bei der Trauerfeier für die Opfer von Charleston gesungen.

Die gelungene Restaurierung des Films ist ein Glücksfall für die Geschichte des Dokumentarfilms und die Gospelszene und wird von der Presse als Sensation gewertet. Ob auch das europäische Publikum sich emotional so überwältigen lässt wie die afroamerikanischen Protagonisten, wo die Tränen in Strömen fließen, wird sich zeigen. Mick Jagger bleibt im Film jedenfalls vergleichsweise cool.

„Aretha Franklin: Amazing Grace“

Alan Elliott & Sydney Pollack | US 2019 | 87 min | OmU
Mit: Aretha Franklin, James Cleveland, The Southern California Community Choir
Spielzeiten: 29./30. November, 1./2./3./4./5. Dezember, jeweils 18 Uhr, am 2. und 4. Dezember um 18.15 Uhr, RIO Kino, Feldkirch