Als Mann immer zu funktionieren, kann lebensgefährlich sein. Nutzen Sie die Ferienzeit einmal, um über etwas Wichtiges nachzudenken: Effektivität. Die folgende Geschichte soll Ihnen auf die Spur helfen.

Von Reinhard Hohmann (EB 3/2002)


Der Lehrgang „Reduktionsgymnastik für mollige Männer“ ist seit Jahren die mit Abstand beliebteste und fröhlichste Veranstaltung des Bildungszentrums K. am Rande der Schwäbischen Alb. Ihn leitet Dorothee Z., eine hagere, der Anorexie zuneigende Mitvierzigerin mit traurigen Augen, die den Teil-nehmern rein äußerlich Modell für das zu erreichende Lernziel steht. Das sind durch-weg rundliche, von den Schultern bis zu den Hüften angenehm ausgepolsterte Herren, die wie so viele Dicke auf Erden das Leben optimistisch sehen, während der schweiß-treibenden körperlichen Übungen viel lachen und denen der Schalk im fetten Nacken sitzt.

Höhepunkt des Semesterprogramms ist der Abschlussabend in der Pizzeria Da Giuseppe, den der Wirt selbst, ein gleichfalls beleibter, schnauzbärtiger Endfünfziger aus der Gegend um Neapel, mit seiner unermüdlichen famiglia tagelang vorbereitet. Da folgen der zuppa di pesce alla genovese die asparagi con prosciutto. Nach dem Zwischengang mit orecciette con cime di rapa (Nudeln in Form kleiner Öhrchen) können die Schlemmernden zwischen pollo alla cacciatora, dem Hühnchen nach Jägerart in Salbei und Rosmarin und dem brasato al barolo, einem deftigen Rinderschmorbraten wählen. Und die Weinkarte gleicht einem Giro d’Italia und spart den Brunello di Montalcino, den Verdiccio di Matelica und sogar den sizilianischen Rosso del Cone nicht aus. Dann die crema di mascarpone, die der Meister nach geheimem mütterlichen Rezept selbst her-stellt. Und: Eis, Kaffe, Grappa.

All den Köstlichkeiten rücken die Absolventen beherzt und mit zunehmender Ausgelassenheit zu Leibe. Der Abend neigt sich dem Ende zu. Wie immer werden Giuseppe und die famiglia, die bis zur Erschöpfung in der Küche gezaubert hat, in die Mitte geholt, mit Lob überhäuft, geherzt und geküsst, sodass der Maestro seine Rührung nicht bemeistern kann und dicke Tränen des Glücks vergießt. Auch Dorothee, die Kursleiterin, wird vorsichtig umarmt, um nichts zu zerbrechen, obwohl sie erschütternd wenig gegessen, ein einziges aqua naturale getrunken und Giuseppe damit, man muss es so sagen, beinahe ein wenig brüskiert hat.

Beim Aufbruch ist man ausgelassener Stimmung. Rüdiger, der Rundeste und Fröhlichste von allen, stößt der hageren Dorothee in die ungeschützten Rippen und rät ihr, sich während der Ferien mal ein bisschen was ‚anzufuttern’. „Sonst kommen wir im Herbst nicht wieder. Bei deinem Anblick könnt’ man ja melancholisch werden.“

Nun, im Herbst werden sie alle wiederkommen, wie seit Jahr und Tag. Und das ist das Problem der Erwachsenenbildung. Beliebt und hoch geschätzt, aber leider folgenlos. Lehrgang reiht sich an Lehrgang, ohne dass Rüdiger und seine Freunde die hehren Semesteranfangsvorsätze in sicht- und messbare Erfolge umzumünzen wüssten. Das darf so nicht bleiben.
Das Bildungszentrum in K. am Rande der Schwäbischen Alb hat nun auf Druck der öffentlichen Hand mit Effektivitätsmanagement reagiert. Jetzt treffen sich die Molligen nicht mehr bei Giuseppe, sondern bei Dorothee daheim im Wohnzimmer zur Feedback-Runde. Es wird ein Brennnesselsüppchen gereicht, dazu Knäckebrot sowie wahlweise Karotten- oder Gurkensaft. Jeder muss auf die Waage. Auch diesmal fließen Tränen, aber keine des Glücks. Die Bereitschaft, im nächsten Semester wiederzukommen, sinkt rapide. Die hoffnungslosen Fälle schämen sich, die Erfolgreichen werden selbst-gesteuert weiterüben, und denen dazwischen macht’s ohne die andern keinen Spaß mehr.

Das freut die öffentliche Hand. Nicht so Dorothee, die ihren Job verliert. Und schon gar nicht Giuseppe, der traurig und allein vor seinen Köstlichkeiten sitzt und demnächst zurückgeht nach Neapel.