Dass plötzlich alles anders ist, ist eine Erfahrung, mit der kranke Menschen und ihre Angehörigen oft konfrontiert sind. Was steckt hinter diesem "alles"? Und wohin kann dieser Veränderungsprozess führen? Eine Spurensuche anlässlich des Welttages der Kranken.

Patricia Begle, Krankenhausseelsorgerin

Wenn wir krank sind, dann erleben wir dies zunächst einmal als körperliches Phänomen - etwas tut weh oder "funktioniert" nicht mehr wie bisher. Der Körper erzwingt Aufmerksamkeit. Wir sind gefordert, uns ihm zuzuwenden und anderes zu lassen. Erst im weiteren Verlauf einer Erkrankung, insbesondere, wenn sie längere Zeit andauert, wird uns bewusst, dass Kranksein mehr bedeutet, als körperliche Einschränkung. Es berührt auch andere Ebenen unserers Menschseins.

Das Ganze löst sich auf

Der deutsche Theologe Thorsten Moos spricht in seinem Werk "Krankheitserfahrung und Religion" von vier solcher Ebenen. Den Prozess der Veränderung beschreibt er als Disintegration – also als Auflösung eines Ganzen in seine Teile. Das klingt beim ersten Hören abstrakt, wird aber in der Auseinandersetzung deutlich. Denn die Erfahrung, dass Gewohntes in vielerlei Hinsicht nicht mehr möglich ist, lässt das Leben Stück für Stück "zerbröseln".

Neben der oben beschriebenen leibkörperlichen Disintergration führt Moos als weitere Ebene die soziale Einbettung an und spricht hier von sozialer Disintegration. Durch eine Krankheit kommt das soziale Gefüge, in dem wir leben, ins Wanken. Gerade bei längerer Krankheit können wir die Aufgaben und Rollen, die uns ausmachen, nicht mehr (er)füllen. Zudem wird unsere Teilhabe am sozialen Leben eingeschränkt, manchmal massiv. Unser menschliches Umfeld ändert sich, manche Bezugspersonen verschwinden – aus Scheu und Unsicherheit - neue treten hinzu.

Unter dem Begriff „praktische Disintegration“ beschreibt Moos den Verlust unserer Handlungsfähigkeit. Selbstverständliche Handgriffe werden zu Hürden, die nicht zu bewältigen sind. Überall sind wir auf Unterstützung angewiesen: beim Essen, Anziehen, Waschen, Toilettengang... So verlassen wir vertraute Rollen und müssen uns in neuen finden: aus der Selbstbestimmten wird die Hilflose, aus dem Aktiven der Daliegende, aus dem Unversehrten der Leidende.

Noch eine weitere Selbstverständlichkeit schwindet im Kranksein, Moos bezeichnet die vierte Disintegration als temporale: Das Vertrauen, eine Zukunft zu haben, zerfällt. An seine Stelle treten Unsicherheit, Zweifel und Angst. Der Platz für Hoffnungen wird zunehmend eingeengt.

Wer bin ich?

Irgendwann stellt sich im Prozess der Krankheit wohl die Frage ein: Wer bin ich? Wer bin ich, wenn ich all das nicht mehr bin? Was bleibt von mir übrig?
Es ist gut, wenn der kranke Mensch in all diesen Auflösungsprozessen und Fragestellungen nicht allein ist, wenn er ein Gegenüber hat, das diese Prozesse mitgeht und mitträgt, das die Fragen aushält ohne vorschnelle Antworten zu geben und Resonanzraum für Hoffnungen ist. Papst Franziskus stellt den diesjährigen Welttag der Kranken unter folgendes Motto: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Auf dem Weg der Nächstenliebe an der Seite der Leidenden.“ Damit spricht er eine entscheidende Grundhaltung an, in der kranken Menschen begegnet werden soll. Im Bild des barmherzigen Vaters wird deutlich, worauf es ankommt: den Menschen in den Arm zu nehmen, nicht weil er Großartiges getan hat, sondern einzig deshalb, weil er sein Kind ist. Wenn es uns gelingt, diese Barmherzigkeit kranken Menschen – auch uns selber – entgegenzubringen, dann unterstützen wir das Heilwerden, dann kann in den Mosaiksteinen unseres Daseins ein neues Selbstbild gefunden werden.

Insofern ist Krankheit auch immer eine Chance, dem Eigenen näher zu kommen, sich aus veralteten Selbstbildern, aus Ansprüchen und Erwartungen zu lösen. Schon bei Kindern wird nach Zeiten der Krankheit oft ein Entwicklungsschub festgestellt - diese Möglichkeit besteht auch bei Erwachsenen. Schließlich reifen wir ein Leben lang.