„Ich habe keine Zeit“, sagen viele Menschen, wenn sie vor lauter Arbeit und Sorgen nicht zum Atemholen kommen. „Die Zeit zerrinnt uns zwischen den Fingern“, heißt es. Wir fragen Bruder David Steindl-Rast: Muss das so sein?

"Den Atem des Lebens schöpfen" (5)
ein Gespräch in sechs Teilen über Spiritualität mit Bruder David Steindl-Rast OSB

Zum Lebensvertrauen gehört das Vertrauen, dass das Leben mir immer genug schenkt. Zeit ist ein ganz wichtiges Element, das uns geschenkt wird. Deshalb ist es ein ganz wichtiger Aspekt des Lebensvertrauens, sich darauf zu verlassen, dass das Leben mir immer genügend Zeit schenkt – auch wenn es nicht so ausschaut. Und warum schaut es nicht so aus? Weil ich etwas anderes will, als das Leben mir gibt.
Natürlich darf ich mir wünschen, für dieses und jenes mehr Zeit zu haben. Aber das Gefühl, dass nicht genug Zeit da wäre, darf ich ersetzen durch vertrauensvolles Ausnutzen der Gelegenheit, die das Leben mir jetzt schenkt. In jedem Augenblick kann ich schauen, wie ich ihn so verwenden kann, dass ich auch das bekomme, was ich mir erträume und wünsche. Dabei werde ich unter Umständen draufkommen, dass es mir möglich ist, etwas weniger zu schlafen. Unter anderen Umständen ist es notwendig, etwas mehr zu schlafen. Wenn ich eine halbe Stunde früher aufstehe, habe ich vielleicht Zeit für das, was ich mir wünsche; oder wenn ich das auslasse, was mir nicht so wichtig erscheint, bietet mir das Leben die Gelegenheit, stattdessen etwas zu machen, was mich wirklich freut. Wir können uns eine Wertordnung setzen: Wie will ich die Zeit nutzen, die mir das Leben schenkt?

Jetzt
Das Entscheidende ist, im „Jetzt“ zu leben. Eckhart Tolle hat das lesenswerte Buch „Jetzt“ geschrieben. Darin bringt er gut zur Sprache, wie alles immer auf das Jetzt ankommt. Wir haben nichts anderes als das Jetzt. Wir denken an die Zeit, aber darin liegt schon eine Gefahr. Denn wenn wir zu viel an Zeit denken, dann hängen wir an der Vergangenheit oder strecken uns schon in die Zukunft aus. Nur wenn wir zum Jetzt und Hier aufwachen, können wir den uns geschenkten Augenblick mit Leben erfüllen. Das heißt verantwortlich zu leben: Das Leben gibt uns hier und jetzt eine Gabe, die zugleich Aufgabe ist, und wir antworten dankbar darauf, indem wir aus dieser Gelegenheit etwas machen. All das gibt es nur im Jetzt.

Geheimnis
Daraus ergibt sich, wie wichtig es ist, immer wieder innezuhalten und ins Jetzt zu kommen. Wenn wir im Jetzt leben, verliert die Zeit ihren Druck. Die Zeit kann ihren Druck auf uns nur deshalb ausüben, weil wir zu sehr in ihr verfangen sind. Innehalten macht uns innerlich frei.
Wir alle kennen Menschen, die immer für alles Zeit haben. Das sind oft die am meisten beschäftigten Menschen. Man sagt ja: „Wenn du etwas sehr Wichtiges erledigt haben willst, dann frage die am meisten beschäftigte Person, die du kennst.“ Diese Person kann das noch zusätzlich machen. Das sind Menschen, die wirklich im Augenblick leben und daher immer Zeit für alles haben. Andere leiden ständig unter Zeitmangel, weil sie gar nicht im Jetzt sind. Entweder hängen sie noch an der Vergangenheit oder können die Zukunft nicht erwarten. Doch in der Gegenwart zu leben ist das Geheimnis, um die Zeit voll ausnutzen zu können.

Bruder David Steindl-RastBruder David Steindl-Rast

Der Benediktiner ist einer der großen spirituellen Lehrer und Autoren der Gegenwart. 1926 in Wien geboren, wo er Kunst, Psychologie und Anthropologie studierte, folgte er in den 50er Jahren seiner zuvor emigrierten Familie in die USA. Dort trat er in das Benediktinerkloster Mount Saviour ein. Früh wurde er von seinen Ordensoberen zum interreligiösen Dialog beauftragt, insbesondere mit dem Buddhismus. Teilweise lebt er heute in den USA und im Kloster Gut Aich bei St. Gilgen. Sein großes Anliegen ist, dass Menschen zu einem dankbaren und daher freudvollen Leben finden: www.dankbar-leben.org und gratefulness.org.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 37 vom 14. September 2017)