Nach dem Angriff in der Basilika Notre-Dame in Nizza fordert der Vorsitzende der Bischofskonferenz von Frankreich, Éric de Moulins-Beaufort, die Katholiken auf, sich am „geistlichen Kampf“ gegen den Islamismus zu beteiligen und den Dialog mit Muslimen fortzusetzen.

Interview von Arnaud Bevilacqua

Frankreich ist bestürzt über das neuerliche Attentat gegen Katholiken in einer Kirche in Nizza. Wie kann man reagieren, ohne der Verzweiflung und dem Zorn nachzugeben?
Bischof Éric de Moulins-Beaufort: Man muss es annehmen, wütend zu sein oder Angst zu haben. Das sind menschliche Reaktionen. Aber was tun damit? An diesem Allerheiligensonntag haben wir unverhoffterweise die Seligpreisungen gehört: Sie klingen wie ein Aufruf, um die Gnade Gottes zu bitten, um unseren Zorn und unsere Angst in Energie, in eine höheres Gut, zu verwandeln. Wir sollten nicht in Angst und Verzweiflung bleiben oder gefangen im Zorn, der zum Hass werden kann. Die Seligpreisungen eröffnen den Weg und Christus gibt das Beispiel.

Befürchten Sie – nach diesem Angriff – die Reaktionen bestimmter katholischer Kreise oder der Franzosen allgemein?
Bischof E. de M.-B.: Frankreich reagierte bewundernswert – wie nach den Attentaten auf Charlie Hebdo, im Bataclan oder auf die Ermordung von Père Jacques Hamel. Angesichts terroristischer Gewalt hat das Land immer Würde bewahrt und festen Zusammenhalt gezeigt, auch als es von sozialen Unruhen erschüttert worden ist. Bereits nach der Ermordung von P. Hamel waren viele Beobachter im Land und im Ausland von der Reaktion der französischen Katholiken beeindruckt. Ich habe keinen Zweifel, dass es nach dem Angriff von Nizza genauso sein wird.

Wie kann man angesichts der islamistischen Bedrohung Brüderlichkeit predigen, ohne naiv zu erscheinen?
Bischof E. de M.-B.: Zunächst stelle ich einen großen Fortschritt fest: Politiker und Journalisten wagen es, entschlossen – und muslimische Führer unseres Landes: mit  deutlichem Mut – aufzuzeigen, woher das Böse kommt. Wir müssen eindringlich auf die Pathologie des Islam, die der Islamismus darstellt, hinweisen. Diese globalisierte Ideologie, genährt von Einzelpersonen und geschürt von den Reden bestimmter ausländischer Politiker, hat beachtlichen Einfluss, insbesondere dank des Internet. Es ist dramatisch zu sehen, wie junge Menschen in ihren Bann gezogen und zu ihren Erfüllungsgehilfen werden.
Christus lädt uns ein zu glauben, dass es der Mühe wert ist, auf den Anderen zuzugehen: Nicht um gegen ihn Krieg zu führen, sondern um die ewige Gemeinschaft vorwegzunehmen. Zugegeben, ein gewisses Risiko bleibt – aber wir glauben, dass weder der Hass noch die Unterdrückung sich durchsetzen werden. Polizeimaßnahmen, die absolut notwendig sind, reichen nicht aus. Mit den Muslimen, denen wir begegnen, wagen wir zu glauben, dass es gut und auch möglich ist, einander zu kennen und zu schätzen, ohne denselben Glauben zu teilen.

Wie kann man Friedensstifter im Herzen dessen sein, was manche als Krieg gegen den Fanatismus bezeichnen?
Bischof E. de M.-B.: Ich zögere nicht zu sagen, dass wir einen Kampf führen gegen diese Ideologie des Islamismus. Es ist ein weltweiter Kampf, und Muslime sind gleicherweise an ihm beteiligt. Jenen, die ihren muslimischen Glauben leben wollen, tut das wirklich weh. Vielleicht wäre es notwendig, dass noch mehr Muslime, in unserem Land und darüber hinaus, das mit Entschiedenheit sagen könnten. Die Gewalt ist in den Herzen aller Menschen, meines eingeschlossen. Auch Christen waren gewalttätig und haben ihren Glauben benutzt, um Herrschaft und Zerstörung zu rechtfertigen. Die Transformation, die Verwandlung der Gewalt ist eine Arbeit, die jede/r von uns bei sich selbst zu erledigen hat.
Sicherheitsmaßnahmen muss es geben, aber in diesem Kampf – es ist vor allem ein geistlicher, ein spiritueller Kampf – müssen wir darauf achten, dass wir uns nicht von den Waffen des Feindes vereinnahmen lassen. Wenn wir der Gewalt nur Gewalt entgegen setzen, werden wir nicht wirklich gewinnen. Als Christen glauben wir, dass Gewalt durch die Kraft der Liebe und der Vergebung überwunden werden kann – was polizeiliche Maßnahmen und die Schutzpflicht des Staates nicht ausschließt.

Welche Rolle kann die Kirche in diesem Kampf gegen den Fanatismus spielen?
Bischof E. de M.-B.: Wir müssen versuchen, das Wort Gottes in all seiner Kraft und seiner ganzen Herausforderung anzunehmen und davon Zeugnis zu geben. Die Kirche muss dem Wort Gottes Gehör verschaffen und den Gläubigen helfen, eine lebendige Beziehung zu Christus zu leben. Dessen Charakteristik besteht darin, am Kreuz zu sterben, um wieder zu neuem Leben zu erwachen: Auf genau diese Weise stellt sich die Kirche dem Geheimnis des Bösen. Wir müssen versuchen, nicht nur neben den Muslimen zu leben, sondern wagen, mit ihnen in Beziehung zu kommen, keine Angst zu haben.
In seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ betont der Papst ganz erstaunlich seine Freundschaft mit dem Groß-Imam von Al-Azhar. Er versucht gewissermaßen, alle Muslime guten Willens zum Ausdruck echter Brüderlichkeit und zur Suche nach der Wahrheit zu führen. Es ist eine Art Wette, die er eingeht, und in die er die ganze Kirche einbezieht.

Wie kann es in der Begegnung mit den muslimischen Franzosen weitergehen?
Bischof E. de M.-B.: Was heutzutage wirklich fehlt, sind echte Beziehungen zwischen christlichen und muslimischen Familien, das ehrliche, gegenseitige Kennen im Alltag. Insbesondere aus sozialen Gründen gibt es ein unverbindliches Nebeneinander. An der Spitze haben wir gute Kontakte und wir lernen, uns als Verantwortliche zu schätzen. Das Wichtigste ist aber, dass sich Kinder, Jugendliche und Familien tiefergehend entdecken. In ihrem Glauben verwurzelte Christen können das ruhig bezeugen.

Zur Terrorgefahr kommt jetzt noch Gefahr für die Gesundheit. Wie begegnet man zum zweiten Mal den Einschränkungen?
Bischof E. de M.-B.: Alle seit Mai ergriffenen Maßnahmen haben nicht ausgereicht, die Epidemie einzudämmen, es ist also unumgänglich zu reagieren. Aber ich bedauere, dass kirchliche Feiern erneut mit Verboten belegt sind. Ich habe gerade an den Premierminister geschrieben, wie ich damals an Édouard Philippe geschrieben hatte, weil mir scheint – wir haben ja die Trennung von Kirche und Staat – dass der Staat, wenn er die Zahl der versammelten Menschen zwar so begrenzt wie notwendig, nicht zu wissen scheint, was ein Gottesdienst ist und was nicht. Die französische Bischofskonferenz prüft das Dekret unter diesem Gesichtspunkt. Es ist wichtig, in offiziellen Texten keine Formulierungen zu belassen, die der Achtung der Religionsfreiheit zuwiderlaufen, insbesondere wenn die Regierung ein Gesetz vorbereitet, das die Überwachung religiöser Aktivitäten akzentuiert.


Quelle:

La Croix – Print-Ausgabe vom 2. November 2020, S. 8 (Débats). Übersetzung: Dr. Walter L. Buder. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von La Croix.  www.la-croix.com

(Aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 45 vom 5. November 2020)