„Vergeben und vergessen“ - wie oft hört man diesen Ausdruck, und wie selten entspricht er wirklich der Realität? Was braucht es um vergeben zu können? Warum soll das erstrebenswert sein? Was bringt es mir persönlich? Fragen wie diese beantwortete Sr. Melanie Wolfers im KirchenBlatt-Gespräch.

KirchenBlatt: Sie halten in Vorarlberg gleich vier Vorträge zur „Kraft des Vergebens“ und haben auch ein sehr erfolgreiches Buch dazu geschrieben. Warum soll man denn vergeben?
Sr. Melanie Wolfers: Niemand ist zur Vergebung verpflichtet. Weder können Sie einklagen, dass Ihnen jemand verzeiht, noch können oder dürfen Sie zur Vergebung genötigt werden. Ob wir uns auf den Weg der inneren Aussöhnung machen, ist eine Sache unserer freien Entscheidung. Und zugleich öffnen wir durch die Kraft der Vergebung die Tür zu einer neuen Freiheit: Denn wenn wir uns mit den dunklen Kapiteln unserer Geschichte aussöhnen, werden wir freier vom Ballast der Vergangenheit. Die schmerzhaften Erinnerungen heilen und innerer Friede breitet sich aus. Das Einverständnis mit sich selbst wächst und ein Schub neuer, positiver Energie ist die Folge.

Zu Vergeben ist leichter gesagt als getan. Gibt es hier vielleicht eine Art „Zauberformel“?
Wolfers: Da muss ich Sie leider enttäuschen. Es gibt keine Zauberformel, die Vergebung immer gelingen lässt. Es lassen sich aber Schritte aufzeigen, die zu einem Weg der Vergebung gehören. So ist es beispielsweise wichtig, sich der schmerzenden Ausgangssituation innerlich zu nähern und die verschiedenen Gefühle wahrzunehmen, die in einem rumoren. Etwa Wut, Hass, Ohnmacht, Angst, Verachtung oder Scham. Denn erst, wenn wir diese Gefühle zulassen und ihnen ein Heimatrecht in uns gewähren, können sie sich wandeln.

Welche Grundvoraussetzungen braucht es für (eine erfolgreiche)  Vergebung?
Wolfers: Der Weg des Vergebens beginnt – wie jeder Weg – mit dem ersten Schritt, in diesem Fall mit der Sehnsucht und dem Entschluss: „Ich will mich auf einen Prozess der inneren Aussöhnung einlassen. Ich mache mich auf den Weg, der mich hoffentlich dahin führen wird, dass ich dem anderen eines Tages seinen Fehltritt nicht mehr nachtrage. Und ich rechne damit, dass sich meine Sicht vom anderen und von mir selbst verändern wird.“ Ein anderer Punkt liegt beispielsweise darin, eine Kultur der Dankbarkeit zu pflegen. Eine solche Kultur kann uns nämlich die Augen dafür öffnen, dass das Leben uns – allen Widrigkeiten zum Trotz – auch mit viel Gutem beschenkt. Das stärkt unser Vertrauen ins Leben und öffnet uns.

Anderen zu verzeihen fällt oft leichter, als sich selbst zu verzeihen. Weshalb?
Wolfers: Es wohnt in der menschlichen Seele eine hartnäckige Rechthaberei, die nichts mehr scheut als das Eingeständnis – und sei es auch nur vor sich selbst – bei einem verletzenden Eklat mitgemischt zu haben. Einen Fehler gemacht zu haben oder schuldig geworden zu sein. Dieses Eingeständnis wirft nämlich einen Schatten auf unser idealisiertes Selbstbild und kratzt am eigenen Selbstbewusstsein.

Inwieweit kann hier der Glaube eine Hilfe sein?
Wolfers: In meinem eigenen Leben und in der Begleitung von Menschen erfahre ich immer wieder, welch große Rolle es im Prozess des Vergebens haben kann, wenn wir uns in Meditation und Gebet der liebenden Nähe Gottes öffnen. Wir brauchen im Gebet nichts zu beschönigen oder außen vor zu lassen. Wir können alles, auch die dunklen, verworrenen Pfade unseres Empfindens, vor Gott ausbreiten. Gott ist der Raum, in dem alles Platz hat und sein darf. Und manchmal stellt sich das ahnende Empfinden ein, von innen her liebevoll angeschaut zu sein.

Wenn Menschen auf diese Weise Schritt für Schritt mit einer erlittenen Verletzung oder mit eigenem Fehlverhalten Frieden schließen und heiler werden, dann kommen sie mit der Mitte des christlichen Glaubens in Berührung: Sie erfahren, dass das Christentum eine durch und durch therapeutische Religion ist. Aber leider wird seit der Aufklärung Religion oft mit Moral verwechselt. Umso dankbarer bin ich für die Spiritualität meiner Ordensgemeinschaft - den Salvatorianerinnen -, in der Jesus Christus als ‚salvator’, als Arzt und Heiland im Mittelpunkt steht. Von Jesus werden viele Heilungsgeschichten erzählt. Ja, er nähert sich sogar den Aussätzigen, die aus der Gesellschaft brutal ausgestoßen werden. Und das Eigenartige passiert: Jesus macht sich durch die Berührung nicht unrein, sondern die Unreinen werden durch seine Berührung rein. Jesus hat eine ansteckende Gesundheit. Kein Wunder, denn nichts kann einen Menschen so sehr verändern wie die Erfahrung echter Liebe.

Gibt es Ihrer Meinung nach auch Grenzen der Vergebung?
Wolfers: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass manche Menschen fähig sind, unvorstellbar Grausames zu vergeben. Denken Sie an manche Holocaust-Opfer denken. Oder an Gisela Mayer, deren Tochter beim Amoklauf des 17-jährigen Tim Kretschmer in der Realschule im deutschen Winnenden 2009 ihr Leben verlor. Mit ihrer Tochter ist für sie eine ganze Welt gestorben. Heute, nach Jahren abgrundtiefer Dunkelheit, hat sich ihr Blick auf den Todesschützen verändert, der so fürchterliches Leid über ihr Leben gebracht hat. Sie kann seine Verzweiflung und Not erahnen und hat eine „Stiftung gegen Gewalt an Schulen“ initiiert, um dem Blick aller dafür zu schärfen, wenn junge Menschen aus Beziehungen herausfallen und in Gewaltfantasien abrutschen. Offensichtlich sind der schöpferischen Kraft der Vergebung keine prinzipielle Grenze gesetzt.

Wir befinden uns aktuell ja im „Jahr der Barmherzigkeit“. Inwieweit hat Vergebung mit Barmherzigkeit zu tun?
Wolfers: Im Vergeben offenbart sich etwas von der Barmherzigkeit, zu der wir Menschen fähig sind: Wir stellen das Vergangene dem anderen nicht mehr in Rechnung und geben den Schuldschein aus der Hand. Auf diese Weise befreien wir die Gegenwart von der unerbittlichen Logik des Abwägens und Aufrechnens. Wir eröffnen eine Zukunft, die nicht mehr unter dem Diktat des Vergangenen steht. In dieser kreativen Fähigkeit wird vielleicht am deutlichsten sichtbar, was die Bibel mit dem Bildwort ausdrückt: Der Mensch ist ein „Ebenbild Gottes“ und hat an dessen schöpferischer Kraft und Barmherzigkeit Anteil.