Was tut sich bei Jugendlichen entwicklungspsychologisch? Welche Rollen spielen in diesem Alter die Bindung an die Eltern und der Glaube? Und wie ist die Entwicklungspsychologie hilfreich beim Gestalten eines Firmweges? Die Pädagogin und Psychologin Helga Kohler-Spiegel im Interview.

Das Gespräch führte Dietmar Steinmair

Frau Dr. Kohler-Spiegel, was macht das Jugendalter – wenn wir es einmal mit 12 bis 14 Jahren als Beginn und mit über 20 Jahren als meist ausfransendes Ende betrachten – entwicklungspsychologisch besonders?
Helga Kohler-Spiegel: Die verschiedenen Lebensabschnitte haben jeweilige Entwicklungsaufgaben. Für das Jugendalter können wir davon eine ganze Reihe beschreiben, etwa die Denkentwicklung, der Umbau des Körpers – bis ins Gehirn hinein, die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Gerade den veränderten Körper zu akzeptieren und die eigene Geschlechtsrolle zu entwickeln, sagt sich leicht, ist aber eine große Herausforderung. Im Jugendalter ist es notwendig, neue Beziehungen aufzubauen. Freundschaften verändern sich, was manchmal auch mit Schmerz verbunden ist. Es müssen Entscheidungen in Richtung Berufswahl getroffen werden. Psychisch ist auch die innere Ablösung ganz wichtig: Welche Wertentscheidungen meiner Eltern nehme ich mit, welche passen nicht zu mir?
Ein junger Mensch fragt sich also: Wer bin ich – mit allem: Körper, Aussehen, Wesen? Was kann ich – was sind meine Fähigkeiten? Was will ich – beruflich, mit meinem Weg? Und: Wo gehöre ich sozial dazu? Alle diese vier Bereiche müssen neu durchbuchstabiert werden. Das geht natürlich nicht linear, sondern kann auch Brüche und Irritationen enthalten.

Für Jugendliche sind Bindungen wichtig, zum anderen Geschlecht und auch die zu den Eltern. Wie wichtig ist diese Bindung zu den Eltern – trotz der gleichzeitig erfolgenden Ablösung? Wie sehr ist etwa die Elternbindung in Krisensituationen und bei Schul-, Ausbildungs- oder Beziehungsproblemen weiterhin gefragt. Nimmt ein Jugendlicher das auch bewusst wahr?
Kohler-Spiegel: Die Entwicklung zwischen Bindung und Ablösung von den Eltern passiert einerseits ganz selbstverständlich im Verlauf des Heranwachsens. Gleichzeitig wissen wir etwa aus der „Lebenswelten“-Studie, die wir in Vorarlberg 2016 gemacht haben, dass Jugendlichen zu 98 Prozent wichtig ist, zu den Eltern eine gute Beziehung zu haben, selbst wenn die Beziehung grad schwierig ist. Elterliche Personen sind für Jugendliche ein innerer, stabiler Anker. Faktisch gilt das natürlich nicht für alle Jugendlichen, aber der Wunsch ist ganz stark da.

Eine der Übersetzungen von „Religion“ ist ja „Rück-Bindung“ (an Gott). Spielt diese Frage der Bindung also auch im Glaubens-Leben der Jugendlichen eine Rolle?
Kohler-Spiegel: Das scheint wichtig zu sein. Zum einen geht es darum, Glaube so kennenzulernen, dass er auch im Jugendalter noch ein Halt ist. In einer neuen Studie aus Baden-Württemberg von 2018 sagen 75 Prozent der befragten Jugendlichen, dass sie bei Kummer, aber auch bei Dankbarkeit, auf das Gebet zurückgreifen. Sie greifen darauf zurück, weil sie es vorher als Möglichkeit erfahren haben. Nur 8 Prozent sagen beispielsweise, sie seien gleichgültig gegenüber der Frage nach einem Leben nach dem Tod. Es gibt also bei Jugendlichen definitiv dieses Fragen und Suchen nach einem Halt über das Menschliche hinaus.
Was bleibt, ist der kritische Blick auf Kirche. Jugendliche, die persönlich mit Kirche verbundene Erfahrungen machen, etwa in einer Jugendgruppe, sehen Kirche positiver. Der kritische Blick bezieht sich bei der Kirche aber gerade auf ihre Glaubwürdigkeit. Das ist in diesem Alter das Entscheidende.

Was kann die Kirche da machen?
Kohler-Spiegel: Was für Jugendliche nicht im Vordergrund steht, ist der Verwaltungsapparat. Die Frage für sie ist vielmehr: Finde ich in der Kirche Menschen, die die „Hauptnahrungsmittel“ weitergeben? Das Gesehen-Sein etwa – „Resonanz“ wäre das moderne Wort dazu. Oder auch, ob mir da jemand Orientierung gibt. Orientierung aber nicht im Sinne von Antworten, sondern von ernstnehmendem Suchen. Kirche kann da sehr wohl etwas machen, weniger in ihrer institutionellen Ausprägung, sondern wie sie Jugendliche begleitet. Jugendliche wollen spüren, dass da Menschen sind, die mit ihnen suchen und sich einlassen auf die großen Fragen des Lebens. Wenn das junge Menschen in Jugendgruppen, in Chören oder wo auch immer erleben, dann kann das auch wachsen. Das bedeutet natürlich auch eine große Herausforderung an das Personal.

(c) Charlotte SchrimpffWie kann die Entwicklungspsychologie bei der Gestaltung eines Firmweges helfen?
Kohler-Spiegel: Die Firmvorbereitung muss angebunden sein an die Fragen des Lebens. Die Fragen von Jugendlichen sind hier nicht zuerst die religiösen, sondern es sind die genannten Entwicklungsaufgaben, die leichter fallen, wenn sie begleitet sind. Die herausfordernden Lebensfragen kann man nicht in Watte wickeln, denn Jugendlichen kommen gerne auf den Kern der Fragen.
Es ist für Jugendliche auch ein Thema, dass Erwachsene – wenn es dann um religiöse Fragen geht – ausweichen. Ausweichen auf fertige Antworten, oder dass sie gar nicht wirklich auf die Fragen antworten. Dann hören die Jugendlichen irgendwann auf zu fragen. Viele haben nämlich schon als Kinder – die ja genau spüren: Worüber kann man reden, worüber nicht? – gelernt: Da kommt eh nichts Brauchbares. Das halte ich tatsächlich für ein Problem.
Darum fordert Firmvorbereitung auch die Erwachsenen sehr. Was sage ich etwa angesichts der Ungerechtigkeit von Leid? Wie gehe ich selbst damit um, dass ich die Frage nach dem Warum nicht beantworten kann? Was ist das mit dem Leben und mit dem Tod? Was macht Leben bedeutsam?

Wie ist es mit dem sozialen Empfinden von Jugendlichen? Sind Sozialaktionen jedenfalls empfehlenswert für die Planung einer Firmvorbereitung?
Kohler-Spiegel: Das ist eine spannende Frage. Bei Jugendlichen geht es ja um Identitätsfindung. Also: Wer bin ich selber? Und wer bin ich in den Augen der Anderen? Da macht es Sinn, Räume anzubieten, in denen man das erproben kann. Das geht aber übers Tun, nicht nur übers Denken.
Zweitens: Zum Christlichen gehört zentral, dass ich mich selber wahrnehme – Selbstliebe, dass ich aber auch fähig bin, den Anderen wahrzunehmen – Nächstenliebe. Gott zeigt sich immer auch in dieser Begegnung mit sich selbst und mit dem Anderen.
Hier Angebote zu machen, macht aber nur dann Sinn, wenn dieses Tun auch wirklich Bedeutung hat. Jugendliche sind ja oft konfrontiert mit Dingen, die wenig Sinn machen. Wenn Jugendliche bei den „72 Stunden ohne Kompromiss“ oder bei einer Flurbereinigung oder in der Art, wie sie sich ernähren, sehen: „Da kann ich was bewegen!“, dann hat es Bedeutung. Es gibt zum Beispiel Schulen, an denen die Schülerinnen und Schüler jede Woche zwei Unterrichtsstunden lang eine Frau im Altenheim begleiten oder im Lerncafé der Caritas mit Kindern lernen. Da merken Jugendliche: Was ich mache, hat Bedeutung und macht Sinn. Wenn ich nicht da bin, fehle ich. Wenn Jugendliche in der Schule fehlen, fehlen sie meist nur den Freunden oder dem eigenen Lernen.
Zum Christsein gehört ja nicht nur, sich selbst zu mögen, sondern auch für den Nächsten etwas zu tun, ohne dass ich gleich direkt was zurückbekomme.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mag. Dr. Helga Kohler-Spiegel

Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg im Bereich Human- und Bildungswissenschaften, mit Schwerpunkt Pädagogische Psychologie. Praxis für Psychotherapie und Lehrtherapie, (Lehr-)Supervision und Coaching in Feldkirch.