Das Alter birgt Weisheiten und Schätze, die Schnelllebigkeit unserer Zeit aber hält diese vielfach verschüttet. Um solche Schätze zu heben, lud die ARGE Altenpastoral vergangenen Freitag ins Bildungshaus Batschuns zu Vortrag, Diskussionsrunden und Podiumsdiskussion. Gastvortragender war der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer.

Patricia Begle

Der Vortrag von Reimer Gronemeyer folgt an diesem Nachmittag keinem Skript und keiner Powerpoint-Präsentation. Vielmehr beschreibt er sein Anliegen, Wissen und vor allem seine Erfahrung intuitiv und assoziativ. So entsteht eine kurzweilige Mischung aus Alltagsgeschichten, Thesen, die die Gegenwart analysieren und Zitaten von Zeitgenossen und Dichtern.

Vom Schmerz zur Schönheit. Zwei Verse aus Goethe’s Marienbader Elegie zitiert Gronemeyer, sie beschreiben eine Grunderfahrung des Alters: „Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen, da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen.“ Entstanden sind die Zeilen, als Goethe sich fast 80-jährig in eine junge Frau verliebt und diese seinen Antrag ablehnt. So wird ihm bewusst, dass es Dinge gibt, die er nicht mehr erleben wird. Dieses Abschiednehmen gehört zum Alter dazu,  so Gronemeyer, vielfach ist es mit Trauer und Schmerz verbunden. Diesen Schmerz zu leugnen, wäre ein falscher Weg. Vielmehr muss er erfahren werden, „damit sich der Vorhang zur Schönheit des Alters auftun kann“.

Zwei Seiten des Alters. Wie sich diese Schönheit zeigt, illustriert er mit der Erzählung von einer Bergtour in Namibia. Mit seinen Studenten übernachtete der Professor im Freien, als es plötzlich zu regnen begann. Im nassen Schlafsack frierend wünschte er sich nach Hause aufs Sofa und spürte die Mühsal und Zerbrechlichkeit seines Alters. Nach einer Stunde aber riss die Wolkendecke auf und er erblickte den schönsten Sternenhimmel, den er je in seinem Leben gesehen hatte. „Im Alter wird Schönheit viel tiefer gespürt“, weiß Gronemeyer.

Jugendwahn. Solche Fähigkeiten und Schätze zu entdecken, die das Alter mit sich bringt, ist ein mühseliger Prozess, ja ein Schwimmen gegen den Strom. Denn wir leben in einer Zeit, die vom Jugendlichkeits-wahn geprägt ist, das Altsein wird verschüttet und geht verloren. „Die Gesellschaft lebt von jugendlichen Voranstürmern, die jeden Tag das Neue erfinden“, analysierte der Soziologe. „Das Wissen und die Weisheit der Alten zerbröckelt, es wird zu Müll erklärt und radikal entwertet.“

Weisheit in Gesten und Sprache. Dabei ist die Welt voller Weisheit, in den kleinen Dingen muss sie gesucht werden. Gronemeyer erinnert sich an seine Großmutter, die 1956 gestorben ist. Beim Brotschneiden hielt sie den Laib vor ihre Brust und führte das Messer zu sich her. „Diese Bewegung hat sie 65 Jahre so ausgeführt, das sah man ihr an. Das sind so kostbare Gesten“, ist er überzeugt. Weisheiten verbergen sich auch in der Sprache. Als Beispiel nennt er das Wort „dement“, jeder Dialekt hat dafür einen speziellen Ausdruck. In diesen Dialektbegriffen liegt ein Mehr an Weisheit als in medizinischem Vokabular, das vielfach kalt und nüchtern wirkt.

Schätze heben. Auf seiner Suche nach Schätzen des Alters sind dem Soziologen viele begegnet, sieben hat er in seinem Buch herausgegriffen und beschrieben. Der Mut wird als erster gehoben. Es braucht ihn nicht nur, um sich den Schattenseiten des Alters zu stellen. Er ist auch gefragt, um Dinge, die schiefgehen zu benennen und zu bekämpfen. Als Beispiel dafür führt Gronemeyer den Verein „ZAK“ an. „Zornige alte Knacker“ sind die Worte, die hinter dem Namen stecken, die Mitglieder setzen sich ein gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

Die Liebe. Die Erfahrung mit der Liebe nennt Gronemeyer als zweiten Schatz. Auch wenn die Vorstellungen von Liebe von Generation zu Generation verschieden sind, ist die Geschichte von Romeo und Julia vielleicht eine Geschichte, die sich durchzieht: die große Liebe, die an den Normen der Gesellschaft scheitert. Welches sind heute Hindernisse, die der Liebe im Weg stehen?
Eine Szene, die dem Soziologen zum Thema „Liebe“ in den Sinn kommt, ist das Abschiednehmen von der Patentante seines Sohnes. Mit seinem erwachsenen Kind steht er am Sarg und ist stumm. Sein Sohn aber bedankt sich bei der Toten. „Wir müssen uns üben, darüber zu sprechen, was uns bewegt“, fordert er die Zuhörenden auf.
Wider das Vergessen. Als wichtigste Weisheit der Alten sieht Gronemeyer die Erinnerung. Sie richtet sich gegen das Vergessen, das in der Schnelllebigkeit so präsent ist. Das Erinnern an die Mechanismen und Vorstellungen während des Nationalsozialismus ist nur ein Beispiel, das vor Augen führt, wie bedeutsam diese Fähigkeit ist - die Alten sind Träger der Erinnerung. Eng damit verbunden ist die Tradition. Sie erschöpft sich nicht in Volkstanz und Tracht. Vielmehr sind alte Menschen Repräsentant/innen dessen, was zu unserer Geschichte gehört.

Lebensstil mit Bodenhaftung. Frucht und Erfahrung stellen einen weiteren Schatz dar. Das hat zu tun mit dem Wissen des Gärtnerns, mit jenem Wissen, das für einen guten Umgang mit dem Boden notwendig ist, für einen guten Umgang mit der Welt. Wieder bringt Gronemeyer seine Großmutter ins Spiel. In ihrer Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit lag eine große Weisheit. Sie stellte sich nicht die Frage: „Was könnte ich noch machen?“ Diese Gier kannte sie nicht. Ihr Lebensstil hatte mit Bodenhaftung zu tun.

Nicht-Wissen. Überhaupt ist Wissen ein weiterer Schatz, den Gronemeyer heben möchte. Allerdings stellt sich hier die Frage, welches Wissen für die zukünftige Generation Bedeutung hat. Gerade im technischen Bereich zählt nur noch das Wissen von heute und morgen. Gronemeyer fragt auch nach einer Möglichkeit, Wissen zu verlernen. Nämlich jenes Wissen, das uns zugrunde richten kann. Gelassenheit ist schließlich der siebte Schatz. Er erwächst aus dem Lassen. Das Lassen des Ich sowie das Lassen der Vorstellung von Gott, wie es bei Meister Eckhart zu lesen ist, sind Grundvoraussetzung für die Gelassenheit, die sich gerade auch im Alter als Weisheit zeigt. «

(aus dem KirchenBlatt Nr. 4 vom 24. Jänner 2019)