Ein 18 Monate altes Kind, das gerade einmal fünf Kilo wog. Dieses Bild „verfolgt“ Caritaspräsident Michael Landau. Und er fragt sich: Was tun wir dagegen? – auch gegen die Tragödie vor Lampedusa, die neu spürbare Armut im eigenen Land. Und was tun wir dafür, dass Menschen an der Hand eines anderen sterben können.

 Interview: Hans Baumgartner

Caritaspräsident Michael LandauSie haben in den vergangenen Wochen syrische Flüchtlingslager im Libanon und Hungergebiete in Afrika besucht. Was nahmen Sie von dort mit?
Landau: Aus dem Libanon die wirklich niederdrückende Situation von Menschen, die vor einem brutalen Krieg fliehen mussten. Zu den menschlichen Tragödien kommt da noch die wachsende Not an Unterkünften, an Nahrung, an medizinischer Versorgung, weil das Land, das gerade einmal so groß ist wie Tirol, und die privaten Hilfsorganisationen trotz bestem Bemühen mit rund einer Million Flüchtlingen längst an ihren Grenzen sind. Und im Senegal wurde ich mit dem Drama des Hungers, von dem weltweit 840 Millionen Menschen betroffen sind, hautnah konfrontiert. Ich kann das Bild eines Buben auf einer Ernährungsstation, der mit 18 Monaten gerade einmal fünf Kilo wog, nicht vergessen. Da bekommt die Statistik, alle zehn Sekunden stirbt ein Kind an Hunger, plötzlich ein ganz konkretes Gesicht.

Was lösen diese Eindrücke bei Ihnen aus?
Landau: Die bedrängende Frage: Tun wir dagegen genug? Denn Hunger ist kein unabänderliches Schicksal, wir können ihn besiegen, wenn wir nur wirklich wollen. Das richtet sich an jede/n von uns, denn schon mit sieben Euro können wir die Ernährung eines Kindes für einen Monat sicherstellen. Das richtet sich aber auch an unser Land, an jede/n unserer PolitikerInnen, die erst vor kurzem beschlossen haben, die ohnedies beschämende Entwicklungshilfe erneut zu senken. Ist ihnen damit bewusst, dass sie das Überleben von Menschen wegsparen? Mit einer Million Euro, das zeigen auch unsere Projekte, kann man 12.000 Menschen langfristig vom Hunger befreien; 12.000 Kinder, Frauen und Männer, die sonst gezwungen sind, zu verhungern oder ihre Heimat zu verlassen, um dann vielleicht im Mittelmeer zu ertrinken.

Was erwarten Sie sich von den PolitikerInnen?
Landau: Dass sie ihren Kürzungsbeschluss für 2015 zurücknehmen und stattdessen die Mittel für direkt wirksame, bilaterale Entwicklungshilfe verdoppeln. Und dass sie als nächsten Schritt einen konkreten Stufenplan festlegen, wie das auch im letzten Regierungsübereinkommen wieder versprochene Ziel, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (derzeit 0,28%) für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, noch in dieser Legislaturperiode erreicht werden kann. Zur Finanzierung könnte man auch einen Teil der geplanten Finanztransaktionssteuer zweckbinden. Ich erwarte mir auch, dass die Regierung ihr Versprechen, die Mittel für die Auslandskatastrophenhilfe auf 20 Millionen Euro jährlich aufzustocken, endlich wahr macht. Wann denn – wenn nicht dieses Jahr, wo rund um uns, von der Ukraine, dem Irak und Syrien bis zum Sudan, die Notsirenen heulen! Wenn der Außenminister sagt, er möchte Österreich international mehr Gewicht verschaffen, dann wäre der humanitäre Bereich ein exzellentes Feld dafür.

Sie sprachen von Notsirenen: Was verbinden Sie da mit Lampedusa?
Landau: Erschrecken, dass so etwas vor unserer Tür des gemeinsamen Europas geschieht. Und Erschütterung darüber, dass EU-Europa, das vor zwei Jahren den Friedensnobelpreis erhielt, in die Abwehr von Flüchtlingen drei Mal soviel Geld investiert wie in die Hilfe und menschenwürdige Aufnahme. Das ist eine Bankrotterklärung der Menschlichkeit. Wenn heuer schon mehr als 70.000 Menschen in untauglichen Booten ihre Leben riskiert haben – und dabei auch Hunderte ertrunken sind –, um vor Dürre, Hunger, Verfolgung und Krieg zu fliehen, dann ist es geradezu eine Sünde, weiter wegzuschauen. Dazu braucht es mehr Europa und eine klare gemeinsame Strategie.
Ich begrüße es daher, dass nun auch die österreichische Innenministerin für einen europäischen Schulterschluss in der Flüchtlingsfrage sowie für ein gemeinsames europäisches Resettlementprogramm (Neuansiedlung von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen) eintreten will. Bisher war das nicht so.

Eine ganz andere Frage: Anfang Juli hat das Parlament eine Enquete-Kommission zu den Fragen Sterbehilfe und Sterbebegleitung eingerichtet. Was soll und kann da herauskommen?
Landau: Ich erwarte mir, dass der vor zehn Jahren einstimmig von allen Parteien beschlossene Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung finanziell und organisatorisch so sichergestellt wird, dass alle Menschen dazu einen Zugang haben. Heute ist es so, dass wir zwar eine gute medizinische Versorgung für alle für einen großen Teil unseres Lebens haben, nicht jedoch am Ende des Lebens. Das ist, wie wenn bei einem Flug gerade in der kritischen Phase, der Landung, der Pilot ausstiege. Es kann nicht sein, dass Menschen, die auf ihrem letzten Lebensstück eine Hospiz- bzw. Palliativbetreuung brauchen, darauf hoffen müssen, dass es genug Spenden für diese Einrichtungen gibt. Deshalb sehe ich in dieser Kommission eine Chance, dass Versicherungsträger, Bund und Länder endlich zusammenfinden und die Hospiz- und Palliativbetreuung in die Regelfinanzierung unseres Gesundheits- und Pflegesystems überführen. So wie jeder sicher sein kann, dass sein gebrochener Arm behandelt wird, muss auch jede/r sicher sein, bei Bedarf Hospiz- und Palliativbetreuung zu bekommen.

Laut Regierungsprogramm soll auch über eine Verankerung des Verbots der aktiven Sterbehilfe in der Verfassung verhandelt werden …
Landau: Ich denke, in einem Land, in dem auch das Recht auf sauberes Wasser in der Verfassung steht, würde es auch Sinn machen, das Verbot der aktiven Sterbehilfe (Euthanasie) und das Recht auf Hospiz- und Palliativbetreuung in die Verfassung zu schreiben.  Aber mir ist weniger wichtig, wo etwas steht, als dass etwas geschieht. Und wenn ich sehe, dass es bisher in der Verfassungsfrage unterschiedliche Meinungen gibt, ist es mir wichtiger, dass der breite politische Konsens darüber, dass in Österreich Menschen an der Hand eines anderen sterben sollen und nicht durch die Hand eines anderen (Kardinal König) erhalten bleibt und sich möglichst rasch in konkreten Maßnahmen niederschlägt. Das ist es, was für die Menschen zählt.

Meldungen häufen sich, dass die Zahl der Mindestsicherungsbezieher/innen (früher Sozialhilfe) steigt, es kommt zu immer mehr Delogierungen und die Schlangen bei den Sozialmärkten werden länger. Was geschieht da gerade?
Landau: Das ist auch unsere Erfahrung, dass zunehmend mehr Menschen – auch aus dem unteren Mittelstand – unter Druck kommen und Schwierigkeiten haben, ihre normalen Lebenshaltungskosten zu finanzieren. Das hängt einerseits mit den überdurchschnittlichen Preissteigerungen in den Bereichen Wohnen, Energie und Nahrungsmittel zusammen, aber auch damit, dass die Nettoeinkommen vieler DurchschnittsösterreicherInnen stagnieren und die Zahl der trotz Arbeit Armen („working poor“) wächst. Gleichzeitig stiegen die Einkommen der Millionäre allein im letzten Jahr um sieben Prozent. Ich verstehe daher, dass es jetzt eine Debatte um eine Steuerreform gibt und darum, wie ein fairer und gerechter Beitrag aller zur Finanzierung der notwendigen öffentlichen Leistungen ausschauen soll.

Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Landau: Zunächst möchte ich festhalten: Wir sind in Österreich relativ gut durch die Krise gekommen, auch weil der Staat seine Verantwortung gegenüber jenen, die Hilfe brauchen, wahrgenommen hat. Aber es wäre fatal, wenn jetzt im Zuge eines Sparkurses gerade diese sozialstaatlichen Kernaufgaben zunehmend auf der Strecke blieben. Im Gegenteil, wir brauchen in einer ganzen Reihe von Bereichen einen stärkeren politischen Willen, das Gemeinwohl gut zu gestalten. Als wichtige Bereiche würde ich nennen: Leistbares Wohnen durch die Rückkehr zu einer Zweckbindung der Wohnbauförderungsmittel und eine Reform des Mietrechts; einen Systemwechsel bei der Pflege: weg von der Sozialhilfelogik (Unterstützung nur für „Sozialfälle“) hin zu einer solidarischen Finanzierung, wie bei anderen großen Lebensrisiken auch; eine Bildungsreform, die tatsächlich dem Anspruch gerecht wird, dass kein Kind, keine Begabung verloren geht – und dass jene, die 100 Meter hinter der Startlinie starten müssen, auch noch faire Chancen haben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Auch im Bereich der Mindestsicherung wären einige Nachschärfungen (Wohnen, Sonderbelastungen) gut. Josef Beuys sagte einmal: „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden, sonst bekommen wir eine Zukunft, die wir nicht wollen.“ Was mir derzeit fehlt, das ist der gemeinsame Blick der Politik nach vorne: Was sind die Ziele, die wir zum Wohl der Allgemeinheit erreichen wollen, und wie finanzieren wir das fair und gerecht?

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