Der Papst will eine Kirche, die aufbricht und neue Wege wagt; eine Kirche, welche die Freude des Evangeliums verkündet und den Schrei des Lebens hört, auch wenn sie sich dabei abschürft und verbeult. Der Papst erwartet sich „missionarische Gemeinden“, die nach ihren Schafen riechen und nicht nach dem Weihrauch alter Formen und Traditionen. Der Theologe Roman Siebenrock zum neuen Papstschreiben „Evangelii gaudium“.

Hans Baumgartner


Das neue Papstschreiben „Die Freude des Evangeliums“ hat viel Aufmerksamkeit erregt. Was ist aus Ihrer Sicht der Grundtenor? 
Siebenrock: Ich denke, der rote Faden, der dieses doch sehr umfang- und themenreiche Schreiben durchzieht, ist die Frage: Was dient dazu, die Freude des Evangeliums mit möglichst vielen, ja mit allen Menschen zu teilen
und das befreiende Zeugnis Jesu weiterzutragen, vor allem seine Zuwendung zu den Armen, den Ausgegrenzten und Sündern. Überraschend ist der sehr entschiedene Duktus: hier geht es nicht um einen erbaulichen theologischen Exkurs, sondern um ein ganz konkretes Programm für den Weg der Kirche.

Dr. Roman SiebenrockUniv.-Prof. Dr. Roman Siebenrock
lehrt an der Theologischen Fakultät
der Universität Innsbruck Dogmatik.

Was ist der Hintergrund, der Schlüssel, mit dem man dieses Schreiben lesen sollte?
Da spricht ein Papst, von dem man weiß, dass er selber als Seelsorger immer wieder an die „Ränder“ gegangen ist, zu den Armen, Drogenabhängigen oder von der Arbeit Ausgeschlossenen. Und da spricht einer aus den Erfahrungen der lateinamerikanischen Kirche, die im Anschluss an das II. Vatikanische Konzil ihren befreiungstheologischen Weg der „Option für die Armen“ entwickelt hat. Dabei standen nicht irgendwelche Ideologien im Zentrum, wie von manchen behauptet wurde, sondern die missionarische Sendung der Kirche:  Die Freude des Evangeliums mit allen zu teilen heißt auch, für die Würde und Gerechtigkeit für alle Menschen einzutreten. Im Grunde ist das der Weg, den die Pastoralkonstitution des II. Vatikanums (Gaudium et spes) vorgezeichnet hat. Während Joseph Ratzinger dieses Konzilsdokument schon 1975 mit großer Skepsis kommentiert hat, ist es für Papst Franziskus eine der entscheidenden Orientierungsmarken.

Wie sehen nun die programmatischen Vorgaben des Papstes konkret aus?
Da gibt es zunächst einige sehr klare inhaltliche Vorgaben für eine Neuausrichtung der Pastoral – und wohl auch des Selbstverständnisses der Kirche. Und dann bringt der Papst eine Reihe von strukturellen Veränderungen, die teilweise schon im Konzil angedacht waren, ins Gespräch. Aber auch dabei geht es ihm nicht bloß um eine Optimierung oder Demokratisierung der Verwaltung, sondern darum, wie die Kirche ihre Sendung bestmöglich erfüllen kann. Dabei stellt er an zwei Stellen (Nr. 16 und 32) auch das Papstamt, so wie es heute konzipiert ist, in Frage.

Was sind die wichtigsten inhaltlichen Anstöße?
Ausgehend von der Leitidee des Konzils, das die Kirche als „wanderndes Gottesvolk“ beschreibt (Lumen gentium 9–12), fordert er eine Kirche, die aufhört, ständig um sich selbst zu kreisen, eine Kirche, die aufbricht und sich radikal auf ihre eigentliche Sendung konzentriert: die Verkündigung des Evangeliums. Dazu bedarf es einer „missionarischen Communio“, in der alle – nicht nur der Papst, auch die Bischöfe, Priester und Laien, ihre Verantwortung ernst nehmen; eine Communio, die diesen Namen auch verdient, weil alle partizipativ, mittragend und mitentscheidend, eingebunden sind. Deshalb lädt der Papst auch ein, über eine bessere Rolle der „Räte“ nachzudenken. Zum Wesen dieser missionarischen Gemeinde gehört es, hinauszugehen an die Ränder der menschlichen Existenz, an die Ränder der Gesellschaft, dort, wo der Schrei des Lebens zu hören ist. Eine Gemeinde muss nach ihren Schafen riechen, fordert der Papst. Eine Kirche, die sich nicht auf die Straße hinauswagt und nichts riskiert, sondern lieber im sicheren Hafen bleibt, ist für ihn geradezu krank. Der Auftrag, missionarische Gemeinde zu sein, ist für den Papst mehr als ein moralischer Appell; da geht es um die Sendung der Kirche selbst.

Der Papst will das Evangelium mit allen teilen. Was hat das für Konsequenzen für die Verkündigung? 
Ich möchte hier zwei Punkte nennen: der erste ist die Konzentration auf die Mitte, den Kern unseres Glaubens, den Grund unserer Freude: auf Gott, der in seiner Liebe mit uns geht und in Jesus sein Leben mit uns teilt – bis in den Tod hinein. Alles andere, was die Kirche lehrt, ist nicht unwichtig, muss aber in der rechten Zuordnung und Balance zum Zentrum stehen. Der Papst verweist sehr nachdrücklich auf die vom Konzil betonte alte Lehre von der Hierarchie der Wahrheiten (z. B. Thomas v. Aquin). Als negatives Beispiel nennt er einen Pfarrer, der im Jahr zehnmal über Enthaltsamkeit, aber nur zwei bis drei Mal über Liebe und Gerechtigkeit predige. 
Ein weiteres wesentliches Element wäre die Teilhabe des Menschen – an der Freude des Evangeliums ebenso wie an den Gütern der Erde. Das lässt sich, so der Papst, nicht trennen, sondern liegt zutiefst begründet in der Würde des von Gott geliebten Menschen. Gottes teilendes und mitteilendes Offenbarungshandeln ist quasi das Vorbild dafür. Deshalb ist eine Wirtschaftsordnung, die so viele Menschen von der Teilhabe an Einkommen, Bildung, Arbeit oder Gesundheit ausschließt, ein zentrales Thema der Evangelisierung, der christlichen Lebenspraxis und Verkündigung.

Participatio (Teilhabe) – nur eine Forderung für diese Welt oder auch für die Kirche?
Weil Teilhabe zum Menschsein gehört, gehört sie für den Papst auch zur Kirche. Der Papst fordert ausdrücklich innerkirchlichen Dialog und ein Aufeinander-Hören – und nimmt sich dabei auch selber in die Pflicht. Im Sinne der vom Konzil wieder aufgegriffenen Idee der alten, sehr selbständigen Patriarchate fordert er eine Verlagerung vieler kirchlicher Entscheidungen an die Bischofskonferenzen und will dafür auch konkrete Strukturen schaffen – ganz im Unterschied zum Präfekten seiner Glaubenskongregation. Er fordert eine stärkere Einbeziehung der Laien – besonders nachdrücklich der Frauen – in kirchliche Entscheidungsprozesse. Es ist deutlich zu spüren, dass dieser Papst eine dialogische Kirche will – etwa in der sehr deutlichen Aufforderung an die Bischöfe, alle zu hören–  und ein Ende der absolutistischen Herrschaft nach dem Muster des frühen 19. Jahrhunderts. Deshalb bin ich auch sehr gespannt auf die Vorschläge der acht Kardinäle und darauf, wie man mit der ersten „Gläubigenbefragung“ zur Familiensynode umgehen wird.

Könnte man zusammenfassend sagen: hier tickt die Kirche anders, als sie bisher getickt hat?
Ich denke, dass die Kirche da und dort schon längere Zeit anders tickt. Aber was den Papst angeht, wird hier doch sehr deutlich ein neuer Ton angeschlagen: Bei Papst Benedikt stand die Sorge im Vordergrund, die Kirche könnte ihre Identität verlieren. Deshalb wurde auf die Bewahrung der Tradition (in Riten-, Glaubens-, Moralfragen etc.) größter Wert gelegt. Dieser Papst sagt nicht, dass die Lehrtradition etc. nicht wichtig wären. Aber er trifft eine Güterabwägung und sagt: Der Anfang der Kirche und Kern aller Tradition ist die missio-
narische, evangelisierende Sendung. Und das hat absoluten Vorrang. Da soll man auch etwas wagen, da kann auch etwas danebengehen; es ist immer noch besser, als hinter dem Ofen zu sitzen.