„Der Jesuit“ ist der schlichte Titel eines Buches aus dem Jahr 2010. In mehreren Gesprächen gab Erzbischof Jorge Mario Bergoglio den Journalisten Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti einen tiefen Einblick in sein Leben und sein Denken. Es gehört zum Spannendsten, was in den letzten Wochen an „Papst-Büchern“ erschienen ist.

Bild rechts: Erzbischof Jorge Mario Bergoglio in der Kirche San Cayetano, dem Schutzpatron von Brot und Arbeit (2009)
zur Sache: Der Priester - ein Kommunist?

Hans Baumgartner

Bereits das Vorwort des Buches ist höchst ungewöhnlich: Es stammt vom Rabbiner Abraham Skorka (Buenos Aires) und zeugt von der tiefen Begegnung von zwei Freunden, die in der Suche nach Gott verbunden sind. Inhaltlich gibt das Buch einen an vielen Stellen berührenden und offenen Einblick in das Leben, Wirken und Denken des heutigen Papstes, auch in die Zeit der Militärdiktatur.

Die Berufung
Unterwegs zu einem Treffen mit Freunden machte der 17-jährige Bergoglio noch einen kurzen Besuch einer Kirche auf dem Weg. Dort traf er einen jungen Priester und entschloss sich spontan zu beichten. Da, so sagt er, sei etwas Seltsames passiert: „Ich würde sagen, es hat mich getroffen, als ich offen und ungeschützt war. Es war die Überraschung, das maßlose Erstaunen über eine wirkliche Begegnung. Das ist die religiöse Erfahrung: das Erstaunen darüber, jemandem zu begegnen, der dich erwartet. Von diesem Zeitpunkt an ist es Gott, der einen mit einer Ausschließlichkeit umwirbt, wie es sie nur in der ersten Liebe gibt. Man sucht Ihn, aber Er sucht dich zuerst. Man möchte Ihn finden, aber Er findet uns zuerst.“

Und er fügt hinzu, dass es nicht allein „das Erstaunen über die Begegnung“ war, die seine Berufung auslöste, sondern die barmherzige Weise, in der Gott ihn damals ansprach. Ihn habe immer eine Lesung aus dem Stundenbuch beeindruckt, in der die Rede davon ist; dass Jesus Matthäus in einer Haltung anschaute, die in der Übersetzung ungefähr als „durch Erbarmen auserwählend“ umschrieben werden könnte. „Das war genau die Weise, wie ich mich während dieser Beichte von Gott angeschaut fühlte.

Und das ist die Weise, wie er mich stets die anderen anzuschauen bittet: mit großer Barmherzigkeit. Das ist einer der Schlüssel zu meiner religiösen Erfahrung: der Dienst der Barmherzigkeit und die Erwählung von Menschen aufgrund eines Angebotes, das salopp so zusammengefasst werden könnte: Schau mal, du bist geliebt als du selbst, du bist erwählt, das Einzige, was von dir verlangt wird, ist, dass du dich lieben lässt.“

Einladende Kirche

Auf die Frage, ob die Kirche einen guten „Job“ mache, verwies Bergoglio auf eine pastorale Richtlinie der argentinischen Bischöfe, in der die „herzliche Aufnahme“ besonders betont wird. Und wörtlich: „Wir Kleriker sind in Gefahr, der Versuchung zu erliegen, Verwalter und nicht Hirten zu sein.“ Weil sie in ihren Pfarren oft nicht gut auf- bzw. angenommen würden, gehen viele zu den Pfingstgemeinden. Es sei daher absolut notwendig, „dass die Katholiken – Kleriker wie Laien – die Begegnung mit den Menschen suchen. Einmal sagte mir ein sehr weiser Priester, dass wir uns in einer total anderen Situation befinden, als sie im Gleichnis vom Guten Hirten angesprochen wird, der 99 Schafe in seinem Stall hatte und sich aufmachte, das eine verirrte Schaf zu suchen: ,Wir haben ein Schaf im Stall und 99, die wir nicht mehr suchen gehen.‘ Ich glaube wirklich, dass die vorrangige Grundoption der Kirche gegenwärtig nicht ist, Vorschriften zu reduzieren oder ganz abzuschaffen oder dies oder jenes zu erleichtern, sondern auf die Straße zu gehen, um die Menschen zu suchen und sie persönlich kennenzulernen …

Einer Kirche, die sich darauf beschränkt, die Arbeit in einer Pfarrei zu verwalten, die sich in ihrer eigenen Gemeinschaft einigelt, wird das Gleiche passieren wie jemandem, der eingesperrt ist. Er verkümmert. Oder er verfault wie ein abgeschlossenes Zimmer, in dem sich Moder und Feuchtigkeit ausbreiten. Einer auf sich selbst bezogenen Kirche geschieht dasselbe wie einer nur auf sich fixierten Person: Sie wird psychotisch und autistisch. Natürlich ist auch klar, dass einem, der auf die Straße geht, ein Unfall passieren kann. Aber ich ziehe eine Kirche mit Unfallrisiko tausendmal einer kranken Kirche vor. Mit anderen Worten: Ich glaube, dass eine Kirche, die sich bloß auf das Verwalten beschränkt, um ihre kleine Herde zu bewahren, eine Kirche ist, die auf lange Sicht krank wird.“

Eigene Meinungen verlassen
„Ein Hirte, der sich einschließt, ist kein wirklicher Hirte der Schafe, sondern einer, der seine Zeit damit verbringt, ihnen Löckchen zu drehen, anstatt andere Schafe zu suchen. Auf die Menschen zugehen bedeutet auch, ein wenig von sich selber wegzugehen und den eingezäunten Bereich unserer eigenen Meinungen zu verlassen, wenn diese zum Hindernis werden und den Horizont verschließen, der Gott selbst ist. Das heißt konkret, sich in eine Haltung des Zuhörens zu versetzen.“

Die Kirche müsse von einem „Kundenschema“, wo man darauf warte, dass der/die Gläubige kommt, wegkommen. „Wir müssen Strukturen haben, die es erlauben, dass wir dorthin gehen, wo man uns braucht, wo die Menschen sind. Die pastorale Erneuerung erfordert, dass wir von einer Kirche, die den Glauben reguliert, zu einer Kirche werden, die den Glauben weitergibt und erleichtert. Die Gläubigen bleiben weg, wenn man sie nicht richtig annimmt, wenn man ihre Sorgen nicht ernstnimmt, wenn man ihnen nicht nachgeht. Aber auch, wenn man sie nicht teilhaben lässt an der Freude der Botschaft des Evangeliums, an dem Glück, ein christliches Leben zu führen.“

Die Menschen annehmen.
Auf die Frage, ob die Kirche den Menschen nicht zu „moralisierend“ entgegentrete, meint Bergoglio: „Wer immer nur das Negative sucht, das, was uns trennt, ist kein guter Katholik – ob Priester oder Laie. Das ist nicht das, was Jesus möchte. Es wirkt nicht nur abstoßend und verstümmelt das Evangelium, sondern zeigt auch, dass wir die Dinge nicht annehmen. Christus nahm alles an. Und man kann nur das erlösen, was man angenommen hat. Wenn jemand nicht toleriert, dass es in einer Gesellschaft Menschen mit verschiedenen, auch den eigenen entgegengesetzten Wertmaßstäben gibt, und wenn wir diese Menschen nicht respektieren und für sie beten, werden wir sie in unserem Herzen nie erlösen. Allerdings dürfen wir nie zulassen, dass die Ideologien (wie z. B. der Konsumismus) die Oberhand über die Moral gewinnen. Vorrangig aber ist die Begegnung mit den Menschen, das Miteinander-auf-dem-Weg-Weitergehen. Dann wird auch das Gespräch über das Trennende einfacher.“

Zuerst Christus
Zur Frage, ob die Kirche hinsichtlich ihrer Sexualmoral nicht manches überdenken müsste, meint Bergoglio:
„Die Kirche predigt, was sie für das Beste für den Menschen hält, was ihn erfüllter und glücklicher macht. Aber häufig kommt es zu einem Reduktionismus, der den Menschen abwertet. Das Wichtigste in der Predigt ist doch, dass Jesus Christus verkündigt wird, dass Christus Gott ist, dass er Mensch geworden ist, um uns zu retten, dass er in dieser Welt gelebt hat wie einer von uns, dass er leiden musste, gestorben und auferstanden ist. Das ist die Verkündigung des Christus, die den Menschen staunen lässt, ihn zum Glauben führt.

Am Anfang steht die Begegnung mit Jesus Christus. Dieser Begegnung folgt das Nachdenken über Gott mit Hilfe der Katechese. Daraus lassen sich dann die moralischen Grundsätze ableiten.“ In den Predigten aber würden oft die ersten beiden Schritte ausgelassen, man spreche gleich darüber, was man darf und was nicht, am liebsten über die Sexualität. „Und so vergessen wir den Schatz des Heiligen Geistes in unseren Herzen, den Schatz eines christlichen Lebensentwurfes, der doch weit mehr beinhaltet als die sexuellen Fragen.“ Als drastisches Beispiel erzählt Bergoglio von einem jungen Priester, der Erstkommunionkinder mit dem Verbot von Verhütungsmitteln traktierte, anstatt sie für die Schönheit der Begegnung mit Jesus zu öffnen.

Reformthemen
Bei der Frage der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten setzt Bergoglio auf geistlich-menschliche Begleitung, stellt aber die „Regel“ nicht in Frage. Zum Zölibat meint er, dass dieser bleiben werde. Wenn er aber wirklich einmal aufgehoben würde, dann nicht wegen des Priestermangels. „Wenn die Kirche eines Tages diese Norm revidieren sollte, dann würde sie es wegen eines kulturellen Problems an einem bestimmten Ort in Angriff nehmen, wie es in den Ostkirchen der Fall war (ist) – aber nicht für alle gültig und nicht als persönliche Option.“

ZUR SACHE

Der Priester - ein Kommunist?

In dem soeben auf Deutsch erschienenen Interview-Buch nimmt Erzbischof Bergoglio auch ausführlich zu sozialen Fragen Stellung. „Es ist wirklich eine ungeheure Ungerechtigkeit, dass es in unserem Vaterland, in dem uns Gott alles gegeben hat, an Brot und Arbeit fehlt. Es handelt sich um eine himmelschreiende Verantwortungslosigkeit, was die Verteilung der reichen Ressourcen unseres Landes angeht.

Wenn wir als Kirche darauf hinweisen, dann gibt es immer einige, die der Meinung sind, das sei gegen die Regierung gerichtet. Manche behaupten daher: ,Das ist doch ein kommunistischer Priester!‘ Nein: Das, was sich sage, dass wir Brot, Arbeit, Kleidung und Bildung teilen müssen, ist Evangelium pur. Denn danach werden wir gerichtet werden …“

„Seit 40 Jahren lebt Argentinien in einer Situation der Sünde, weil man sich nicht der Menschen annimmt, die kein Brot und keine Arbeit haben ...
Wir brauchen eine Kultur, die Arbeit fördert, und nicht eine Politik der Almosen.“ Denn ein Mensch, der ohne Arbeit ist, könne nicht nur nicht für seine Familie sorgen, „er fühlt sich auch miserabel, weil er ,sich sein Leben nicht verdient‘.“

Heftig kritisiert Bergoglio die Unfähigkeit der argentinischen Gesellschaft im Sinne des Gemeinwohls gemeinschaftlich zu handeln, mehr noch, „es herrscht ein ständiges Klima der Unfähigkeit zur Begegnung; wir neigen dazu, Konflikte zu verschärfen, ja ,Krieg zu führen‘.“

Buchtipp

Papst Franziskus: Mein Leben. Mein Weg. (El Jesuita).
Von Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti.
Verlag Herder, 2013, € 20,60.

Weitere neue Bücher bei Herder:

  • Stefan von Kempis, Der neue Papst – Franziskus: Wer er ist, wie er denkt. Ein Bildband. € 20,60
  • Jorge M. Bergoglio, Offener Geist und gläubiges Herz. Biblische Betrachtungen. € 20,60