„Gefährliches Wissen“ stand dieses Jahr im Zentrum der Salzburger Hochschulwochen. Von Hirnforschung und Biomedizin bis zur Atomtechnik und dem in der heißen Universitätsaula täglich nachfühlbaren Klimawandel wurden viele aktuelle Entwicklungen und Risiken angesprochen. Ungewöhnlich war die Spurensuche nach dem „gefährlichen Wissen der Kirche“ durch Prof. Johanna Rahner.

Interview: Hans Baumgartner

Dr. Johanna RahnerFrau Professor, gefährliches Wissen der Kirche: Was verstehen Sie darunter?
Rahner: Ich meine damit nicht irgendwelches Geheimwissen, das von mehr oder weniger finsteren elitären Zirkeln gehütet wird. Das ist eher das Revier von Trivialromanen. Und ich meine damit auch nicht ein Wissen, das wir als Kirche hätten, die Welt draußen aber nicht. Denn eine Kirche, die ihr Wissen wie einen Schatz der Eingeweihten hütet, wird ihrem Auftrag nicht gerecht. Denn erst im Austausch mit der Welt ist sie Kirche Christi, im voneinander Lernen, im aufeinander Hinhören, im miteinander Gehen. Und deshalb bezieht sich das, was ich „gefährliches Wissen“ nenne, immer auch gleichermaßen auf die Kirche selbst wie auf die Welt.


Sie haben gesagt, was „gefährliches Wissen“ nicht ist. Wo stecken nun die Gefahren?
Rahner: Ich meine damit einen Schatz an biblisch-theologischem Wissen, der in der Lage ist und war, selbstkritisch und selbstreinigend  vor allem auf die Kirche, aber auch auf die Welt zu wirken; ein Schatz, der gerade deshalb auch immer wieder vergraben wurde, weil er wie ein „Stachel im Fleisch“, eben gefährlich war; ein Schatz, der von einzelnen Personen wie einem Franz von Assisi oder einem Dietrich Bonhoeffer,  durch theologische Strömungen wie die Befreiungstheologie oder durch Ereignisse wie das II. Vatikanische Konzil aber auch immer wieder gehoben und mit den Fragen der jeweiligen Zeit konfrontiert wurde.


Können Sie „einzelne Perlen“ dieses Schatzes näher benennen?
Rahner: Da ist zunächst einmal die Frage, wie wir Gott sehen, die Frage nach dem Gottesbild oder Gottesverständnis. Anders als z. B. Zeus oder Athene entzieht sich der biblische Gott dem menschlichen Zugriff. Niemand kann von sich sagen, auch nicht die Kirche, er oder sie hat das allein wahre oder volle Gottesverständnis. Das ist der Kern des biblischen Gottes-Bilder-Verbotes: Gott ist nicht dazu da, um aus dem „Wissen“ um ihn machtvolle Strukturen zu legitimieren. Dieses Verbot ist eine stets kritische Anfrage, ob und wieweit wir uns Gott „greifen“, uns seiner bemächtigen oder ihn gar instrumentalisieren. Was ist doch mit dem Bild des strafenden Gottes, mit dem „heiligen Auge“, das alles sieht, für Unheil angerichtet worden. Oder mit dem Anspruch, die „ganze Wahrheit“ zu haben und diese anderen Menschen oder ganzen Völkern aufzwingen zu müssen.


Heißt das, Religionskritiker haben recht, wenn sie sagen, die monotheistischen Religionen mit ihrem „Wahrheitsanspruch“ stellen die größte Gefährdung für Freiheit und Frieden dar?

Rahner: Sie haben möglicherweise recht, wenn wir die selbstkritischen Anfragen an uns aus unserem theologischen und kirchlichen Gepäck streichen – das „gefährliche Wissen“, dass wir Gott nie im Griff haben; dass „Wahrheit“ immer nur ein Ziel ist, dem wir uns annähern können, das wir aber nie in der Tasche haben; dass wir als Kirche vor allem eine Weggemeinschaft sind und keine Besitzgemeinschaft oder dass unsere Gottesbilder nur eine sehr vorläufige Rede begrenzter Menschen darstellen, soweit sie Gott in seiner Offenbarung und in ihrem Leben wahrnehmen können. Ich denke, dieses Wissen hindert uns nicht, unseren Glauben anderen Menschen als befreiende Botschaft vorzulegen, aber es kann uns vor jeder Macht- und Überlegenheitsanmaßung bewahren. Insoferne ist es subversiv für alle, die ihre Macht auf den „Besitz von absoluter Wahrheit“, auf den „Besitz von Gott“ gründen.

Religiöse Macht hat immer auch mit Droh- und Schreckensbildern gearbeitet. Welche Rolle spielt im „gefährlichen Wissen“ die Apokalyptik?
Rahner: Es gibt in der Theologie- und Kirchengeschichte so etwas wie die Instrumentalisierung apokalyptischer Bilder, um den Menschen Angst zu machen vor der „Abrechnung Gottes“ oder um politisch den Kampf zwischen Gut und Böse zu rechtfertigen. Die vom Himmel fallenden brennenden Trümmer der Twin-Towers waren die geradezu „perfekten“ apokalyptischen Bilder für G. W. Bushs Kampf gegen die „Achse des Bösen“.  In dieser Denkart, die sich in christlich-evangelikalen Kreisen ebenso findet wie bei ultra-orthodoxen Juden oder unter radikalen Islamisten, gibt es nur Gut und Böse, die auserwählte Herde und die große Zahl der Gottlosen; da gibt es keine Zeit der Entwicklung mehr, keine Zeit der Veränderung, sondern nur noch die Zeit der Entscheidung, die jetzt (z. B. mit dem 11. September  2001) gekommen ist. Diese Apokalyptik  war und ist in ihrer radikalen Form eher eine Randerscheinung der Theologiegeschichte, in ihrer moralisierenden Form (Droh- statt Frohbotschaft)  aber durchaus verbreitet. Ihr ist vor allem der starke Gegenstrom der heilsgeschichtlichen Theologie entgegenzuhalten. Diese betont gegenüber dem dualistischen Gut-Böse-Denken und der Erwählung weniger den universalen Heilswillen Gottes, der sich in Jesus für alle hingegeben hat. Diese Theologie setzt auf die Wandlungs-, Versöhnungs- und Läuterungsfähigkeit des Menschen (siehe Jedermann) und darauf, dass sich Gottes gute Schöpfung vollendet und das Heil sich in der Geschichte, und nicht im apokalyptischen Abbruch der Geschichte ereignet. Diese heilsgeschichtliche Theologie ist Wissen, das allen Scharfmachern „gefährlich“ wird und unser menschliches Maß (für Recht) in Frage stellt.

Aber ist die Theologie von einem Gott, der ohnedies alles gut macht, ist diese Jedermann-Theologie nicht eine verharmlosende Kuschelecke, die schon wieder gefährlich ist?
Rahner: Es geht nicht darum, die Verantwortung jedes Menschen, ob und wie er bzw. sie mit Gott leben will, zu verharmlosen. Ich denke, gerade heute stellt sich diese Entscheidung den Menschen viel deutlicher als früher. Aber es geht auch darum, dass wir den Menschen vor aller Moral Gottes Liebe und Gottes Heilswillen zusagen, in der Theologie ebenso wie in unserem konkreten Leben, vor allem an der Seite der Bedrängten. Für mich ergeben sich daraus zwei weitere Optionen, die man als gefährliches Wissen bezeichnen könnte, weil sie in Kirche und Welt Gewohntes in Frage stellen. 


Was wären das für Optionen?
Rahner: Da wäre zunächst eine Grundhaltung, die den Menschen etwas zutraut – und nicht nur ihre Sündhaftigkeit sieht; die auf ihre Wandlungs- und Entwicklungsfähigkeit setzt, auf ihre Güte, ihre Empathie- und Liebesfähigkeit. Denn die Menschwerdung Gottes ist nicht nur ein Reinigungsbad für unsere Sündhaftigkeit, wie so oft gesagt wird, sie ist auch ein riesiger Zutrauensvorschuss Gottes an uns Menschen, wirklich Mensch zu werden, Frau und Mann nach Gottes Bild. Ich glaube, es täte uns in der Kirche gut, Antennen dafür zu entwickeln, warum in der heutigen Zeit gerade zu Weihnachten die Kirchen am vollsten sind. Das einfach mit Brauchtum und Kitsch abzutun wäre falsch, das hat auch etwas mit der Hoffnung zu tun, dass wir es als Menschen miteinander und mit der Welt schaffen könnten – im Angesicht dieses Kindes von Bethlehem. Darin liegt viel Heilkraft, aber auch zugleich Sprengstoff. 


Diese positive Grundsicht des Menschen in Ehren: Aber blenden wir da nicht einen Teil der Lebensrealität aus, das Unrecht, das Leid …? 
Rahner: Das ist in der Tat eine zentrale Frage: Wie gehen wir mit dem um, das nicht gut ist, das nicht vollendet werden kann? Wir können es vergessen, verdrängen, verharmlosen, aber dann würden wir den Opfern der Geschichte zusätzliches Unrecht antun. Johann B. Metz hat seinen Theologenkollegen, die nach dem Krieg weitermachten wie gewohnt, den Aufschrei entgegengehalten, wie man nach Auschwitz noch an Gott glauben und Theologie betreiben kann. Eine Theologie, die aus tiefer Empathie die Opfer in den Blick rückt, stellt die „Macher“ in Kirche und Welt und ihre „Siegergeschichten“ in Frage und die „Täter“ in ihre Verantwortung. Erst mit dem Blickwechsel auf die Opfer hin wurde die Kirche fähig, sich dem Missbrauchsskandal zu stellen. Ich würde es das gefährliche Wissen nennen, in dem die Hoffnung lebt, dass Gott am Ende vollenden kann und über alle Widerstände hinweg die Opfer zu ihrem Recht kommen lässt. Eine Theologie, welche die „Option für die Opfer“ ernst nimmt, setzt alle Hoffnung auf den „Heiland“, aber handelt gleichzeitig wie der Samariter, der sich dem Opfer zuwendet, ihm begegnet.