Der Autor, Theologe, Kunsthistoriker und Männerberater Markus Hofer sieht einen Zusammenhang zwischen einem verkorksten Verhältnis zu Sexualität und aktuellen Problemfeldern in der Kirche. Mit Blick auf die Kunstgeschichte plädiert er für Entkrampfung.

Warum ist Nacktheit so ein besonderes Thema?
Markus Hofer: Das Nackte ist in Verbindung mit dem Heiligen ungewohnt. Man meint, heilig sei alles andere, nur nicht nackt. In jeder Religion gibt es heilige Bezirke oder Häuser, wo Nacktheit – und damit auch Sexualität und Phantasie – draußen bleiben müssen.

Das Paradies ist eng mit Nacktheit verbunden. Wieso?
Hofer: Es gibt die Phantasie von einem paradiesischen Urzustand in Bezug auf Erotik, wo alle nackt waren und es alle miteinander getrieben haben ohne Folgen und Konsequenzen und Probleme. Das dürfte aber eine Phantasie der Neuzeit sein, wie man in der Kunstgeschichte sieht. Erst als das Nackte gesellschaftlich verpönt war, kamen diese Phantasien auf. Diesen Urzustand hat es nie gegeben. Es sind Phantasien der zunehmend verklemmten Neuzeit.

Je stärker Nacktheit verdrängt wurde, umso mehr zeigte sie sich auf Heiligenbildern, beschreiben Sie im Buch.
Hofer: Ja, man kann das Interesse daran nicht auf Dauer verdrängen, es bahnt sich wieder seinen Weg. Das erotische Reizschema geht bei uns Menschen über die Augen. Scham im Sinne von Regulierung, wo ich hinschauen darf, wann ich hinschauen darf oder nicht, das ist existenziell und von Anfang an da.

Vereinfacht das Verdrängen von Frauen aus dem öffentlichen Raum Männern das Leben?
Hofer: Das wäre eine absolut unreife Männlichkeit. Nur weil sich Männer nicht im Griff haben, müssen sie nicht die Frauen verstecken. Es ist elementar, dass ein Mann lernt, was er darf und was er nicht darf.

Gibt es einen Gewöhnungseffekt an Nacktheit?
Hofer: Ich glaube, es gibt sogar eine Übersättigung, eine Abstumpfung. Der Reiz von Verbergen und Entbergen ist eine Kultivierung der Erotik, eine Errungenschaft der Menschheit. Ich wünsche mir die vermeintlichen Urzustände der allgemeinen Nacktheit nicht zurück.

Allgemeine Nacktheit und Aussperren von Körperlichem aus dem Leben sind zwei Extreme ...
Hofer: Das Aussperren funktioniert nicht. Irgendwo kommt es hoch. Das Heilige und das Nackte tun einander gut. Das Nackte erdet das Heilige, damit es nicht körperlos abhebt, und das Heilige gibt dem Nackten Würde. Um die Würde müssen wir uns manchmal wieder bemühen. Billige Nackt-Selfies banalisieren Nacktheit. Das sehe ich als würdelos.

Wo ist die Grenze zwischen würdevoll und prüde?
Hofer: Würdevoll ist, wenn das Spielerische nicht verlorengeht. Prüde ist mental eng. Es ist sehr schnell mit Ängsten oder Verboten verbunden. Prüde ist nicht reizvoll. Eine reizvolle, spielerische Kultur kann dennoch würdevoll sein. Um die muss man sich bemühen. Das halte ich für wertvoll. Zusammengefasst: Zu viel Nacktheit ist nicht sinnvoll, aber zu wenig auch nicht. Die spanische Hoftracht des 16. Jahrhunderts mit ihren unerotischen, hohen und steifen Krägen ... genau hier taucht Nacktheit in religiösen Darstellungen auf, in Form von Heiligenbildern oder von Darstellungen der biblischen Geschichte. Gleichzeitig wächst auch die Doppelmoral. Je strenger die Moral, umso abgründiger die Doppelmoral.

Doppelmoral spielt auch bei sexuellem Missbrauch eine große Rolle.
Hofer: Die derzeit so virulenten Themen in der katholischen Kirche – Zölibat, Missbrauch, Frauen – hängen für mich schon zusammen und wurzeln in diesem verkorksten Verhältnis zur sexuellen Lust, das in der Spätantike entstanden ist. Die Angst des zölibatären Priesters vor der Frau, die als Verführerin galt! Das Zölibat veränderte den Rang eines Menschen. Diese besondere Rolle ist verbunden mit Verzicht auf Sexualität. Ich halte das Zölibat für eine absolut sinnvoll Lebensform! Ob es einfacher ist, ein Zölibat zu leben oder eine Ehe, ist unentschieden. Beides ist eine Herausforderung. Aber diese zwanghafte Verbindung von Berufung zum Priestertum und Ehelosigkeit – sie wurzelt im verkorksten Verhältnis zur Sexualität.

Wie kommen wir weg vom Zwanghaften?
Hofer: Die Themen hängen zusammen, und wir können sie nur an der Wurzel lösen: Dass wir ein neues Verhältnis finden zur Sexualität. Die Quintessenz im Buch ist: Es geht nicht ohne Regeln, aber sobald sie zu streng werden, werden sie heimlich durchbrochen. Man muss wirklich nicht jeden Furz regulieren. Man kann den Menschen auch etwas zutrauen. Ganze Kataloge wie früher die Beichtkataloge waren, das war Wahnsinn.

Was sind sinnvolle Leitplanken?
Hofer: Soll ich spontan eine neue christliche Sexualmoral entwerfen?

Ja, bitte! Exklusiv für die Kirchenzeitungen ...
Hofer: Man muss einmal ent-dämonisieren. Wenn wir zum Beispiel die Selbstbefriedigung nehmen: Sie ist heute noch eines der größten Tabus! Das Ärgste, was ich zu dem Thema gelesen habe, kam vom guten Immanuel Kant. Er nennt es „Selbstschändung“ und sagt, das sei noch ärger als Selbstmord. Es gab eine gigantische, von der Medizin gestützte Anti-Onanie-Bewegung. Weil man daran glaubte, dass dadurch das Gehirn austrocknet. Nicht nur die Kirche hat also dämonisiert, sondern auch die Wissenschaft.

Die Verkorksung war also kein rein religiöses, sondern ein kulturelles Thema.
Hofer: Ja. Es braucht mehr Ehrlichkeit. Ehrlicher und offener über Aufklärung zu sprechen, ist auch wichtig. Verhütung ist kein Frauenthema. Jungen Männern gegenüber spreche ich von „Vaterschaftsverhütung“ statt „Empfängnisverhütung“. Da wird bewusst, dass es um die Männer geht. Lustvoll und verantwortungsvoll soll Sexualität sein – dass man einander nicht ausnützt.

Ehrlich, lustvoll, verantwortungsvoll als Leitwörter.
Hofer: Ja. Und auch das Scheitern von Ehen sollte kein Tabu-Thema sein.

Ist Sexualität heilig oder unheilig?
Hofer: Ich würde sie gerne als etwas Heiliges sehen. Aber nicht frömmlerisch.

Bieten erotische Darstellungen von Heiligen eine Chance auf Entkrampfung?
Hofer: Ich sehe sie als gesundes Ventil. Wenn sie allerdings nur vordergründig sind, werden sie zur religiösen Pornographie. Diese Bilder sind aber meistens nicht in Kirchen.

Die Grenze zwischen gesund und banal ist wohl schwierig zu ziehen?
Hofer: So klare Grenzen gibt es im ganzen Leben nicht. Wenn die Geschichte selber verraten wird, wird es problematisch. Sie kann aber in einer protestantischen Ästhetik genauso verraten werden. Wenn David die Batseba beim Bad beobachtet, wie sie mit hochgeschlossenem Kleid ins Wasser steigt, dann ist das eine verklemmte Darstellung, die die Geschichte ebenso verrät. Lucas Cranach der Ältere hat beide Sorten von Bildern gemalt, je nach Auftraggeber. Bei vielen Dingen braucht man ein weites Herz, und die Kirche hatte ein weites Herz, sonst hätte sie viele Heiligenbilder nicht aufgestellt.