„Ende der Zeitzeugenschaft?“ heißt die neue Ausstellung zur Erinnerungskultur an den Holocaust im Jüdischen Museum Hohenems. Michael Köhlmeier hielt bei der Eröffnung vergangenen Sonntag im Salomon-Sulzer-Saal eine tiefgehende Rede zur Sinnsuche des Erzählens und des Zeugnis-Gebens.

Sitzung der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission im polnischen Lodz vor 1946 bei der Aufarbeitung des Holocaust. Dieses Foto findet sich als großformatige Wandprojektion  in der Ausstellung - neben vielen Videos und umfangreichem historischem Material.  

Wolfgang Ölz

Michael Köhlmeier stellte zwei Szenen an den Anfang seiner Rede, die die „tiefste Befindlichkeit des 20. Jahrhundert“ vor Augen führen. Erstens der Beginn des Romans „Der Prozess“ von Franz Kafka. Dort steht: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Zweitens eine Szene im Charlie-Chaplin-Film „Modern Times“. Hier ist der Protagonist, der „Tramp“, als eine Versuchsperson in eine Maschine eingeklemmt und soll gefüttert werden, um möglichst viel Profit für den Fabriksherrn herauszuschlagen. Weder Josef K. noch der Tramp wissen, was mit ihnen geschieht. Es sei die „radikalste Form des Totalitarismus“, wenn es für unnötig gehalten wird, jemanden darüber aufzuklären, warum etwas mit ihm / ihr passiert. Der tiefste Grund des Erzählens sei es, dem was uns angetan wird, einen Sinn zu geben.

Der Mensch kann erzählen.

In so schrecklichen Dingen wie dem Holocaust fallen die Dinge zurück in ihre Zusammenhangslosigkeit. Die Sinnsuche erweist sich als „bloßer Zynismus“. Erzählen kann immer nur einer, immer nur ein Mensch, manchmal mithilfe der Einbildungskraft in Kunst, Literatur, Film und Musik - wenn Fakten nicht in einen Zusammenhang zu bringen sind, weil die denkübliche Verbindung von Ursache und Wirkung versagt.
Die Kuratorin Anika Reichwald unterscheidet in ihrer Arbeit Zeitzeugen und Zeitzeugenschaft. Während die Zeitzeugen zu einem biologischen Ende gelangen, ist die Zeitzeugenschaft eine nie endende Aufgabe jener Institutionen, die sich der Erinnerung an den Mord von sechs Millionen Juden in der NS-Zeit verschrieben haben.
Die interviewten Holocaust-Überlebenden in den Videos stehen alle in Verbindung mit Hohenems, Vorarlberg oder Tirol. Es liegen meist zwei Interviewversionen vor, eine gekürzte und eine lange, die die Spuren der Entstehung bewusst sichtbar machen.

Würde und Respekt.

Würde und Respekt vor dem einzelnen Individuum stehen im Vordergrund. In der gläsernen, zerbrechlichen, flüchtig-transparent anmutenden Ausstellungsarchitektur von Roland Stecher und Thomas Matt wird das Momenthafte der Zeugnisse deutlich. Im Hauptraum führt ein historischer Abriss durch die Jahrzehnte seit dem Holocaust. Die Zeitgeschichte wird wie in einem Brennglas in der sich ständig ändernden Rolle der Überlebenden veranschaulicht und sichtbar.
Ein Kooperationspartner dieser Ausstellung ist Jörg Skriebeleit von der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der bayrischen Oberpfalz. Skriebeleit schätzt das Jüdische Museum Hohenems als das interessanteste jüdische Museum in ganz Europa. Mit der Frage nach der Zeitzeugenschaft treffe das Museum den Nerv der Zeit. Symbolisch besonders aufgeladene Gedächtnisstätten wie Mauthausen oder Ausschwitz könnten dieses Thema nie mit diesem kritischen Ansatz veranschaulichen, weil dort die Aura der im Holocaust Ermordeten und der Überlebenden dies verbieten würde.

Nach München und Berlin.

Der Direktor des Jüdischen Museums, Hanno Loewy, freut sich, dass die international gefragte Ausstellung weiter ins NS-Dokumentationszentrum nach München und ins Jüdische Museum nach Berlin wandern wird.  «

Ausstellung: Ende der Zeitzeugenschaft?

Öffnungszeiten: Di bis So, 10 bis 17 Uhr, bis 13. April,
Jüdisches Museum, Schweizerstr. 5, Hohenems.
www.jm-hohenems.at

(aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 46 vom 14. November 2019)