Eine „Spiritualität des Genug“ bereichert das Leben. Sowohl im Tun als auch im Ruhen geben Menschen dem Göttlichen Raum.

Fastenzeit 2017 Sr. Melanie Wolfers SDS

Merkwürdig: Einerseits wünschen sich die meisten, dass die Zeit auch mal stehen bleibt und sie mehr zu sich kommen können. Andererseits ließen sich vermutlich ganze Fußballstadien mit pausenlos aktiven „Busyholics“ füllen, denn wer Zeit hat, gilt schnell als verhaltensauffällig. Dann doch lieber ein Leben im pausenlosen Bereitschaftsmodus führen als den Eindruck vermitteln, dass man die Stunden nicht minutiös nutze. Der Philosoph Byung-Chul Han vermutet, dass sich dieser überzogene Optimierungsdruck dem modernen Motto verdankt: „Nichts ist unmöglich“. Und er bezeichnet diese Überzeugung als den „Gott der neuen Zeit“. Doch dieser „Gott“ ist eine zerstörerische Illusion und heillose Überforderung! Wie lässt sich dieser Götze von seinem Thron stoßen?

ICH mit MIR im Gespräch

Wir brauchen eine tiefe, unter die Haut gehende Einsicht in unsere Begrenztheit. In die Begrenztheit unserer Kraft und Lebenszeit, in die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und der Machbarkeit von Dingen und Verhältnissen. Es klingt paradox, ist aber hilfreich: Um diesen Lebensrealismus zu lernen, lohnt es sich, bei Sterbenden in die Schule zu gehen. Viele von ihnen sehen nämlich im Rückblick die Dinge und Verhältnisse in einem klareren Licht. In ihrem Buch „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ erzählt die Australierin Bronnie Ware von persönlichen Begegnungen mit Sterbenden, in denen diese Bilanz ziehen. Immer wieder bringen diese zur Sprache: „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel und so hart gearbeitet.“ Sie bereuen, dass sie vor lauter Aktivität und Arbeit das Wichtigste im Leben verpasst haben: das Leben selbst.
Wenn wir vom Ende her leben, ruft uns dies aus der Beliebigkeit heraus. Es ist alles andere als gleichgültig, was wir aus diesem Tag und dieser Woche machen und was wir mit unserem Leben anfangen. Fragen melden sich unabweisbar zu Wort: Worauf kommt es dir letzten Endes an? Wer willst du sein? Wozu bist du auf der Welt? – Leben wir in der Bewusstheit unserer Endlichkeit, dann geht es also nicht um die Kultivierung einer
todesverliebten Sehnsucht, sondern um eine größere Loyalität uns selbst und anderen gegenüber. 

Aug‘ in Aug‘ mit Gott

Um dem pausenlosen Beschäftigtsein Grenzen setzen zu können, braucht es die Kunst des Aufhörens. Von jeher charakterisiert es glaubende Menschen, dass sie den Alltag regelmäßig unterbrechen. Sie lassen ihre Tätigkeiten ruhen aus der Überzeugung heraus, dass sie zu Höherem berufen sind als nur für Arbeit und Konsum.

Werfen wir einen kurzen Blick auf eine Spiritualität des Genug. In der christlichen Tradition gibt es an jedem Tag etwas zu feiern. Jeder Wochentag mündet in den von Verpflichtungen freien Feierabend. Vor allem aber bedeutet der biblische Sabbat eine kulturgeschichtlich bedeutende Errungenschaft, denn hier ereignet sich Pause in höchster Instanz: Gott selbst ruht nach sechs Arbeitstagen aus. In der bekannten biblischen Schöpfungsgeschichte ruft Gott den Kosmos in sechs Tagen ins Dasein. Und dann heißt es: Am siebten Tag vollendete Gott sein Werk. Er ruhte an diesem Tag. Er segnete ihn und erklärte ihn für heilig (vgl. Genesis 2,2 f.). Erst durch den Ruhetag des Sabbats kommt also die Schöpfung zur Vollendung. Dies zeigt: Nicht allein das Schaffen, sondern ebenso das Ruhen ist heilig. Und wenn der Text vom Menschen als „Ebenbild Gottes“ spricht, deutet er an: Sowohl wenn Menschen etwas hervorbringen oder gestalten, als auch wenn sie ruhen und verweilen, geben sie dem Göttlichen Raum.
Die biblische Weisung „Halte den Sabbat heilig!“ fordert auf und ermutigt: „Sei so frei: Unterbrich den Alltag! Widersetze dich der Versuchung, die Arbeit und das Konsumieren absolut zu setzen! Gönne dir und anderen unverzweckte Räume der Muße, in denen du einfach sein kannst!“ Das Sabbatgebot verteidigt unsere Freiheit gegen die Diktatur einer Leistungsgesellschaft und hat daher größte Aktualität. Doch seine entscheidende Aussage liegt nicht in diesem Appell, sondern in dessen religiöser Begründung. Diese lässt sich so formulieren: „Erinnere dich daran, dass du selbst einen Lebenswert hast, den du dir nicht verdienen musst. Deine Würde hängt weder am Nettogehalt noch daran, was du leistest. Vielmehr kannst du darauf vertrauen: Du bist unendlich wertvoll! Geborgen in göttlicher Liebe.“
Als Christen glauben wir, dass Liebe das tiefste Geheimnis unseres Lebens ist und die innerste Mitte von allem. Das Gespür für diese Wirklichkeit kann in den kleinen Dingen aufkeimen: beim Hören einer Musik, beim Geruch eines geliebten Menschen, beim Meditieren eines Bibeltextes. Christliches Leben besteht darin, dass wir wach werden für dieses verborgene Licht, das durch die Haut der Dinge schimmert. Ein solcher Glaube ist ein Freiheitsimpuls erster Güte! Er lässt uns erkennen: Sowohl das ruhige Verweilen als auch die kreative Selbstverwirklichung sind ein göttliches Geburtsrecht eines jeden Menschen.

IMPULS

Feier-Abend
Von einer Frau wird erzählt, dass sie eine Lebensgenießerin erster Güte war. Jeden Morgen steckte sie sich eine Hand voll Bohnen in ihre rechte Hosentasche. Der Grund: Sie wollte die schönen Momente des Tages bewusster wahrnehmen, indem sie für jede positive Kleinigkeit, die sie im Laufe des Tages erlebte, eine Bohne von der rechten Hosentasche in die linke Hosentasche wandern ließ. Abends nahm sie die Bohnen aus der linken Tasche einzeln in die Hand und führte sich vor Augen, wie viel Schönes ihr an diesem Tag widerfahren war. Und auch wenn sie an einem Abend nur eine Bohne in Händen hielt, war es für sie ein Feier-Abend.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 13 vom 30. März 2017)