Barmherzigkeit für wiederverheiratete Geschiedene? In welche Richtung das nun erschienene Arbeitspapier für die Bischofssynode zur Familie im Herbst weisen könnte, erklärt der Dr. Martin M. Lintner OSM, er ist Ordent­licher Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen.

Interview: Heinz Niederleitner

Sehen Sie eine Entwicklung zwischen dem Schlussdokument der Familiensynode 2014 und dem Arbeitsdokument für die heurige Synode?
Lintner: Inhaltlich wird nichts aus dem Schlussdokument zurückgenommen und die Methode wie auch die Richtung der Diskus­sion werden beibehalten. Nach einigen Reaktionen nach der letzten Synode aus konservativen Kreisen oder zum Beispiel von der polnischen Bischofskonferenz stand die Befürchtung im Raum, es werde die Bremse angezogen. Davon ist nichts zu erkennen.

Der Papst hat selbst bei der Erstellung des Textes mitgearbeitet. Merkt man das?
Lintner: Ja, aber nicht so, dass man ihm Sätze zuschreiben könnte. Es ist vielmehr der Stil, der sich auch bei der Generalaudienz vergangene Woche gezeigt hat: Da hat der Papst gesagt, manchmal sei eine Trennung von Eheleuten notwendig, zum Beispiel um Frauen und Kinder zu schützen. Papst Franziskus schaut auf die Realität. Im Arbeitspapier steht ungeschminkt, dass nur eine Minderheit nach der Lehre der Kirche zu Ehe und Familie lebt.

Der Papst fällt aber nicht in eine defensive Rolle, sondern fragt: Wie können wir dem Heilsplan Gottes in dieser Situation folgen?
Bei der Generalaudienz hat der Papst gesagt, er möge den Begriff „irreguläre Situationen“ in Bezug auf Lebensgemeinschaften nicht ...
Lintner: Das ist mehr als nur die Vermeidung eines Begriffes, sondern ein echter Perspektivenwechsel: Es geht darum, zunächst nicht zu sagen: Das ist außerhalb der Norm. Sondern es geht darum, zuerst die Menschen zu sehen, weil man menschliches Leben eben nicht nur normativ beurteilen kann.

Besonders werden bei uns im neuen Arbeitspapier die Themen wiederverheiratete Geschiedene und Homosexualität beachtet. Da hatte es am Ende der letzten Synode nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Passagen im Schlussdokument gegeben. Wie sieht das jetzt aus?
Lintner: Auch manche Kreise, die sich eine Öffnung bei diesen Themen wünschen, hielten es für ratsam, um der Einheit der Kirche willen lieber einen Schritt zurück zu machen. Das Arbeitspapier geht aber einen anderen Weg: Es versucht, die unterschiedlichen Positionen ins Gespräch zu bringen. Beim ­Thema wiederverheiratete Geschiedene sind dabei die Aussagen im Text sehr interessant. Es wird klar gesagt, dass eine Mehrheit der Menschen den kategorischen Ausschluss der wiederverheirateten Geschiedenen von den Sakramenten für nicht gut erachtet, dass er überwunden werden muss. Es wird der Vorschlag genannt, dass unter der Verantwortung des Bischofs ein Weg aus dieser Situation gefunden werden könne, und zwar im Blick auf die Aufarbeitung der gescheiterten Ehe wie auch der Gestaltung der neuen Beziehung. Ich bin kein Prophet, kann mir aber gut vorstellen, dass hier die Lösung anklingt, die dem Papst vorschwebt.

Kann es sein, dass der Papst nach der Synode zwischen einer Mehrheits- und einer Minder­heiten­position in dieser Frage entscheiden muss?
Lintner: Das ist möglich, aber Synoden haben nur beratenden Charakter. Die Entscheidung liegt letztlich immer beim Papst.

Gegner einer Öffnung der Sakramente für wiederverheiratete Geschiedene sagen, Barmherzigkeit dürfe nicht an der Wahrheit vorbeigehen. Im Arbeitspapier steht sinngemäß, man darf das nicht gegeneinander ausspielen. Was heißt das?
Lintner: Die Barmherzigkeit Gottes gehört zur Wahrheit, welche die Kirche zu verkünden hat. Gerade im Umgang mit verletzten und gefallenen Menschen muss die Kirche diese Haltung Jesu bezeugen. Ein Widerspruch zwischen dieser Lehre und der Praxis der Kirche hilft niemandem und schadet der Glaubwürdigkeit. Hier spielt ganz stark auch der Glaubenssinn der Gläubigen („sensus fidelium“) mit hinein. Natürlich geht es nicht um Mehrheitsmeinungen, sondern darum, dass grundgelegt durch die Taufe die Gläubigen mündige Christen sind und die Erfahrungen ihres Lebens im Licht des Glaubens deuten. Auf diesem Weg kann die Kirche auch die Glaubenswahrheiten tiefer erfassen. Wenn Sie mich fragen: Wenn so viele Gläubige und auch viele Bischöfe es nicht für richtig halten, wiederverheiratete Geschiedene von den Sakramenten für immer auszuschließen, dann ist das Ausdruck dafür, dass das nicht dem Evangelium entspricht und die Lehre der Kirche weiterzuentwickeln ist.

Wiederverheiratete Geschiedene und der Umgang mit Homosexuellen sind nur zwei von ­vielen Themen des Arbeitspapiers. Sind wir ­Mitteleuropäer zu sehr auf unsere Fragen fixiert?
Lintner: Wir konzentrieren uns natürlich auf die Fragen, die uns betreffen. Aber es wäre schon wichtig, auch für die Fragen sensibel zu sein, welche viele andere Mitchristen auf der Welt angehen. Wir sind nicht der Nabel der Welt. Denken wir zum Beispiel an die Auswirkungen von Armut und Krieg auf Familien, auf Migration und Flucht, die Familien zerreißt, oder an das Leben christlicher Familien in einer religiösen Minderheitensituation. Da dürfen wir nicht nur auf uns schauen.

Dieser Artikel erschien am 2. Juli 2015 im Vorarlberger KirchenBlatt.