Am "Jahrhundertpapst" schieden sich die Geister. Papst Johannes Paul II. war ein Mensch der interreligiösen Weite und der manchmal erstaunlichen dogmatischen Enge, der Liebe zu den Armen und der Furcht vor Befreiungstheologie, ein überzeugter Europäer und ein begnadeter Seelsorger. Das Pontifikat war geprägt von seiner Lebenserfahrung, wie der Innsbrucker Dogmatiker Józef Niewiadomski im sehr persönlichen Rückblick zum 100. Geburtstag seines polnischen Landsmannes darstellt.

Im Bild: Erzbischof Karol Wojtyła von Krakau 1972 zu Besuch in Wien. Niemand ahnte, dass er ein "Rekordpapst" werden würde. 2014 wurde Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen.

Interview: Monika Slouk

Papst Johannes Paul II. polarisierte. Die Bischofs-ernennung von Hans-Hermann Groër zum Erzbischof von Wien oder Apostolische Schreiben wie jenes über die Männern vorbehaltene Priesterweihe trennten die österreichischen Katholiken in jene für und jene gegen ihn. War Johannes Paul II. ein Papst der Spaltung?
Jozef Niewiadomski: Als 1978 ein Nicht-Italiener zum Papst gewählt wurde, war die Überraschung perfekt. Die Überraschung war aber in verschiedenen Kreisen gleich gewürzt mit dem Beigeschmack: "Ja, er kommt aber aus Polen, ist also rückständig." Die Meinung war und ist verbreitet, dass der Westen die Nase vorne hat. Ich glaube, dass dieser Hintergrund im deutschsprachigen Raum immer mitspielte. Ich persönlich hörte die Nachricht, dass Karol Wojtyła Papst geworden war, als Assistent am Institut für Dogmatik und Fundamentaltheologie in Innsbruck. Ich saß am Schreibtisch, als unsere Sekretärin Theresa Kripp von draußen hereinschrie: "Józef, ein Karol ist Papst geworden!" Und ich antwortete spontan: "Oh Gott, der ist konservativ!" Sie müssen sich vorstellen, wer ich war: Auch ein Pole, der in den Westen gekommen war und unbedingt westlich werden wollte. Ich wollte hinter mir lassen, was ich aus Polen mitgebracht hatte. Ich kannte Johannes Paul II. aus der Zeit meines Seminarstudiums in Polen, er dozierte Ethik in Lublin. Aufgrund dieser Erfahrung nahm ich jahrelang eine sehr kritische Haltung demgegenüber ein, was aus Rom kam. Je länger er im Amt war, umso mehr differenzierte ich meine Meinung. Wenn man die Perspektive verlässt, Polen sei rückständig und müsse sich an den Westen anpassen, und anfängt, ein bisschen differenzierter über die Moderne zu sprechen, dann findet man Seiten in diesem Pontifikat, die tiefer gehen als bloß die Frage nach dem Konservativen. Ich habe sehr unterschiedliche Sachen über ihn geschrieben, bin mit der Zeit zu einer anderen Beurteilung gekommen. Ich glaube, dass sich in diesem Pontifikat sehr große Themen verdichteten. Er war sicher eine Jahrhundertpersönlichkeit. Interessanterweise lassen genau die Leute, die Johannes Paul II. kritisch beurteilten, Franziskus hochleben. Ich sage: Franziskus schreibt in mancher Hinsicht die Ideen von Johannes Paul II. fort. Da er aber eine andere Herkunft hat als Polen, wird das nicht so gesehen. Das Entscheidende, wo ich eine große Verbundenheit zwischen Franziskus und Johannes Paul II. sehe, ist das Thema der Barmherzigkeit. Johannes Paul II. schrieb als erster Papst eine Enzyklika über Barmherzigkeit. Bereits als Jugendlicher war er fasziniert von einem polnischen Ordensgründer, Bruder Albert. Wojtyła schrieb ein Theaterstück, das übrigens auch der ORF produzierte: "Der Bruder unseres Gottes". Bruder Albert diskutiert darin mit einem Revolutionär über Ausbeutung und Hoffnung für die Menschen. Während der Revolutionär meint, man müsse den Zorn der Armen entfachen, um Gerechtigkeit herbeizuführen, sagt Bruder Albert, dass Barmherzigkeit nötig sei. Auf die zynische Frage, ob die Armen deshalb Bruder Albert nachlaufen würden, antwortet dieser: "Nein, ich gehe den Armen nach!" Da ist mir aufgegangen, dass darin ein Grundzug Johannes Pauls II. liegt. Wenn Franziskus heute permanent sagt, dass man an die Ränder gehen soll, ist das nichts anderes als das, was wir in den 1950er-Jahren bereits bei Wojtyła finden: "Ich gehe den Armen nach!" Ich sehe da eine Parallele zwischen Franziskus und Johannes Paul II.

Warum war das Verhältnis von Papst Johannes Paul II. zur Befreiungstheologie so schwierig?
Niewiadomski: In der kommunistischen Ideologie haben wir das Wort "Befreiung" tagein, tagaus gehört. Befreiung geschah durch unser Brudervolk Sowjetunion, durch die Partei und so weiter. Faktisch machten die Menschen die Erfahrung der Versklavung und des Mangels. Vor diesem Hintergrund war es sprachlich eine geniale Leistung von Kardinal Stefan Wyszynski, das polnische Volk systematisch in eine liebevolle Gefangenschaft Mariens zu empfehlen. Er benutzte das Wort Gefangenschaft als Kontrapunkt gegen den Missbrauch des Wortes "Befreiung". Das war meine Kindheit: Lieber diese Gefangenschaft, die uns das unmittelbare Erlebnis des Glücks ermöglicht, als eine Rhetorik der Befreiung, die keine Befreiung ist. Ich verteidige Johannes Paul II. nicht, aber ich verstehe vieles. Wojtyła hat den Kommunisten in Polen nie getraut, und das hat ihn bis ins Tiefste geprägt. Was man aber nicht übersehen darf: Dass er die Soziallehre wie kaum ein anderes Thema in der Kirche hochgebracht hat. Er war der Papst mit drei Sozialenzykliken. Ich würde sagen, die Soziallehre wurde durch seine lehramtliche Tätigkeit aus dem Winkel der katholischen Tradition ins Zentrum gerückt.

Neben der Soziallehre pflegte Johannes Paul II. die interreligiösen Beziehungen intensiv. Auch dafür spielte die Lebenserfahrung eine Rolle: viele seiner jüdischen Jugendfreunde waren ermordet worden.
Niewiadomski: Ja. Wenn Franziskus für den 14. Mai das Gebet aller Religionen in den Vordergrund rückt, ist das nur denkbar, weil es Johannes Paul II. bereits gemacht hat. Das erste interreligiöse Weltfriedenstreffen in Assisi war ein Schock für viele. Da wagte er sich wahnsinnig weit vor. Er hatte am Konzilsdokument Gaudium et spes intensiv mitgearbeitet, mit der absolut revolutionären christologischen Aussage: "In seiner Menschwerdung hat sich der Sohn Gottes mit jedem Menschen verbunden." Deshalb ließen sich nun die Spuren des Sohnes Gottes im Andersgläubigen entdecken – und zwar nicht, um den Andersgläubigen zu missionieren. Deswegen konnte Johannes Paul II. problemlos den Koran küssen (2001 in Damaskus, Anm.), was ihm viele bis heute nicht verziehen haben, weil sie das als Relativismus sahen, so nach dem Motto: 'Anything goes'. Nein, das war für ihn ein klassisches Zeugnis des christlichen Glaubens: Die Spuren der Inkarnation sind überall. Das kann man nicht als platten Inklusivismus herabmindern – "so irgendwie gehören alle dazu". Darum geht es nicht. Ich bleibe radikaler Christ, aber als Christ entdecke ich in dem anderen eine verwandte Seele. Und Karol Wojtyłas besondere Sensibilität den Juden gegenüber war biographisch bedingt. Auschwitz und Krakau sind nicht weit voneinander entfernt. Wie schnell die Koexistenz von Menschen zerstört werden kann, für diese Frage war Johannes Paul II. sehr sensibel. Davon zeugte auch seine Reise nach Jerusalem im Jahr 2000 und der Gebetszettel, den er in die Klagemauer steckte, in dem die Entschuldigung dafür stand, was die Kirche an den Juden verschuldet hatte.

Er war der Erfinder der öffentlichen Entschuldigungen durch einen Papst ...
Niewiadomski: Ja. Es gab auch eine Schmähschrift zu den vielen Entschuldigungen, die er ausgesprochen hatte, so nach dem Motto: Die Kirche braucht sich nicht zu entschuldigen. Johannes Paul II. wusste aber von den Abgründen der Kirche und stand dazu, indem er um Entschuldigung bat. Er wusste auch: Heiligkeit hat nichts mit ethischer Vollkommenheit zu tun. Heiligkeit ist das Ergebnis des Wirkens der göttlichen Gnade. Mutig wie kein anderer modernisierte er den Himmel: Wie viele Menschen aus den Zusammenhängen des Zweiten Weltkrieges – Nationalsozialismus und Stalinismus – und der unmittelbaren Zeit danach erhielten von ihm den Titel heilig! Es war eine Demokratisierung und Positionierung der Heiligkeit in den totalitären Szenarien des 20. Jahrhunderts. Heilige sind ambivalent und fragwürdig und fragmentarisch. Die Frage ist, was die göttliche Gnade mit ihnen macht. Und da würde ich sagen: Bei allem Wenn und Aber war der heilige Johannes Paul II. eine Persönlichkeit, die sehr über den Durchschnitt im 20. Jahrhundert hinausgewachsen ist.

1920 – 2005 Johannes Paul II.

Karol Józef Wojtyła wird am 18. Mai 1920 in Wadowice geboren. Seine Mutter verliert er mit acht Jahren. Karol studiert Philosophie und Literatur, macht Experimentaltheater und schreibt Gedichte und Dramen. Unter deutscher Besatzung arbeitet er in einem Steinbruch und in einer Chemiefabrik. 1942 tritt er in das Krakauer Untergrundseminar ein und wird 1946 zum Priester geweiht. 1947 bis 1948 studiert er in Rom, erlangt zwei Doktortitel in Philosophie und Theologie. Als junger Priester und Professor in Polen ist er für seine Predigten bekannt. 1958 wird Wojtyła zum Bischof geweiht, 1963 zum Erzbischof von Krakau ernannt. Er beteiligt sich am Zweiten Vaticanum. Seine wissenschaftliche Arbeit setzt er neben dem Bischofsamt fort. 1978 wird er in Rom zum ersten nicht-italienischen Papst seit 455 Jahren gewählt.

(Aus dem KirchenBlatt Nr. 20 vom 14. Mai 2020)