Das KirchenBlatt sprach mit Professor Roman Siebenrock über die Bedeutung des Vorläufers Jesu Christi.
von Wolfgang Ölz
Was meinen Sie mit der Aussage, dass die Bibel eine mystische Schrift ist?
Prof. Dr. Roman Siebenrock: Die Schrift erzählt, reflektiert und bekennt Erfahrungen aus der Geschichte von konkreten Menschen, die von der Begegnung mit einem sie rufenden und verändernden Gott Zeugnis geben. Deshalb ist die Schrift nicht eine Sammlung von Behauptungen, sondern ein Zeugnis, das dazu einlädt und ermutigt, solche Erfahrungen selber heute zu wagen. Deshalb ist die Bibel auch nicht eine historische Erinnerung, sondern die Ermutigung den Heiligen Israels, den Vater Jesu Christi in seiner unüberbietbaren Liebe und Erhabenheit heute zu begegnen. Das ist Mystik: Begegnung mit dem liebenden Gott heute, in meinem Leben; und sei es noch so unscheinbar. Die Grundbotschaft lautet: Der Heilige ist da, der Gekreuzigte lebt. Und dieser Jesus Christus hat uns versprochen: Ich bin bei Euch alle Tage bis zum Ende der Welt.
Was sind die biblischen Eckpunkte der Biographie Johannes des Täufers?
Siebenrock: Die Evangelien erzählen sein öffentliches Leben in drei Schritten. Zunächst tritt er als der öffentliche Bußprediger auf, der angesichts der zeitlichen Frist zu Umkehr aufruft. Dann wird die Taufe Jesu erzählt und die Begegnung der beiden. Schließlich wird die Hinrichtung berichtet. Alle drei Ereignisse sind ikonographisch so eindeutig darstellbar, dass sie für die Kunst zum Typus geworden sind. Allein das Evangelium nach Lukas erzählt seine Empfängnis und seine Geburt im Hause von Zacharias, dem Priester, und Elisabeth. Lukas verbindet diese Geschichte familiär mit Jesus und Maria. Historisch unbestritten ist heute sein öffentliches Auftreten, da Flavius Josephus, der jüdisch-römische Historiker dieser Zeit, dieses Auftreten erwähnt.
Johannes der Täufer ist der Inbegriff des Propheten, der den Mächtigen die Wahrheit entgegenschreit. Fehlen heute Menschen, die ungeschminkt und wahrhaftig ihren Standpunkt vertreten?
Siebenrock: Das glaube ich nicht. Die Kritikpunkte haben sich verändert. Bei uns wird heute niemand mehr wegen seiner sexuellen Ambitionen angeklagt; das ist geradezu tabuisiert. Aber Kritik an Intrigen, Mauscheleien und billigen Tricks ist in der Öffentlichkeit durch den Journalismus präsent. Vielleicht aber benötigen wir heute mehr Menschen, die gegen den Trend, den sogenannten Mainstream eine alternative Sicht festhalten.
Wie sehen Sie da die Aktionen der Klimaaktivist:innen zum Beispiel der „Letzten Generation“?
Siebenrock: Auf der einen Seite scheinen sie mir sehr nahe dem Lebensgefühl des Johannes zu sein. Wir nennen das „apokalyptisch“. Das bedeutet: Wir leben im letzten Stadium der Menschheitsgeschichte. Der Unterschied liegt schlicht darin, dass damals das Ende der Menschheit durch Gottes Eingreifen erhofft oder befürchtet wurde. Diese Vorstellung können wir nicht mehr teilen. Aber wir wissen sehr genau, dass unser Lebensstil und z.B. unsere Waffentechnik allem höheren Leben auf diesem Planeten auf lange Zeit ein Ende bereiten können. Für die Selbstvernichtung brauchen wir Gott nicht mehr. Wie aber wächst, wie Hölderlin noch hoffen konnte, in dieser Situation das Rettende?
Ist die Askese des Johannes vergleichbar mit einem achtsamen Lebensstil, der zugunsten von Klimaschutz und Artenvielfalt etwa die zehn Tipps von Greenpeace einhält?
Siebenrock: Johannes erscheint mir kompromissloser. Alle unsere Optionen laufen auf eine Verbesserung von Technik hinaus. Den Lebensstil grundsätzlich ändern können oder wollen wir nicht. Ich weiß auch nicht, wie ohne Wissenschaft und Technik so viele Menschen ernährt werden sollten. Insofern ist Johannes aus einer anderen Welt. Mir scheint die Botschaft Jesu hier viel näher an dem zu sein, was Sie meinen. Jesus setzt darauf, dass die Menschen so viel Potential in sich haben, dass sie zu Umkehr und neuem Leben fähig sind. Immer sagt Jesus: Dein Glaube hat Dich geheilt. Deshalb ist zu fragen, welcher Glaube trägt uns, d.h. welche Grundüberzeugungen und Hoffnungen bewegen uns?
Johannes der Täufer kündigt das endzeitliche Kommen Gottes an. Leben wir auch in einer Endzeit, klimabedingt, technologisch bedroht durch datenbasierte Systeme (vulgo „Künstliche Intelligenz“) und sozial, weil immer mehr Menschen global und auch bei uns in die Armut abrutschen?
Siebenrock: Ja und nein. Die Gründe dafür, dass wir in einer „Endzeit“ leben, habe ich schon genannt. Sie sprechen noch einen anderen Aspekt an. Ich möchte diesen Aspekt bezeichnen als „das Unbehagen, ein Mensch zu sein“. Darin sehe ich den Abgrund der Sünde: Nämlich, Gott sein zu wollen. Nicht mehr empfangen und danken, sondern alles selber optimieren, machen und im Griff haben. Dass wir sozial auf einer schiefen Ebene nach unten leben, halte ich für unbegründet. Es sind noch nie so viele Menschen einigermaßen ernährt worden wie heute. Natürlich gibt es aktuell durch den Ukraine-Krieg weltweite Probleme. Wir haben die prekären Lebensverhältnisse vor der industriellen Revolution und den Entwicklungen der modernen Medizin, vor allem im Bereich der Hygiene, verdrängt. In ihrer Frage schwingt aber für mich noch ein anderer Akzent mit: Wir werden niemals auf dieser Erde einen Garten Eden errichten können. Ich möchte auch ausdrücklich davor warnen. Alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts begannen mit Verheißungen der schönen neuen Welt. Ich beobachte mit Sorge, dass die alten Totengräber Europas, der Marxismus und der Nationalismus, wieder hoffähig werden.
Warum könnte Johannes Brückenbauer zwischen Judentum, Christentum und Islam sein?
Siebenrock: Schlicht indem wir ihn nicht gegen jemanden einsetzen, sondern zunächst uns von seiner scharfen Botschaft betreffen lassen: Kehrt um, es ist höchste Zeit. Dann aber ist für mich Johannes tatsächlich der Wegweiser. Er verweist auf Jesus Christus, indem er auch heute sagt: Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen (Joh 3,30). Mit der Haltung Jesu wird auch die Bedeutung des Johannes zu erschließen sein. Was der Philipperbrief dazu sagt, bedarf keines Kommentars. Es muss nur verwirklicht werden, weil wir nicht Streit suchen und prahlen sollen: „Sondern in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.“ (Phil 2,3-4)