Jeya ist 17 Jahre alt, ihr Gesicht ernst. Ihre Worte erschüttern, wenn sie von ihrer Zeit als Arbeiterin in einer Baumwollspinnerei in Tamil Nadu erzählt. Moderne Lohnsklaverei nennt es Arockiasasamy Britto, der Leiter von „Vaan Muhil“. Die indische Partnerorganisation der Katholischen Frauenbewegung wird durch Mittel des „Familienfasttags“ unterstützt.

Ingrid Burgstaller 

Nach einer Zwölf-Stunden-Schicht hieß es oft noch: Überstunden machen! Wenn wir zur Toilette wollten, mussten wir das in ein Buch eintragen – nur zweimal pro Schicht war erlaubt. Selbst wenn wir krank waren, mussten wir in die Fabrik. Wir wohnten zu dreizehnt in einem Zimmer. Geschlafen haben wir auf dem Boden, nur mit einer dünnen Matte als Unterlage. Das Essen war sehr schlecht. Manchmal fanden wir sogar Würmer im Reis“, zählt Jeya einige der schlimmen Arbeits- und Wohnbedingungen auf, unter denen sie drei Jahre gelitten hat.

Bereits als Zwölfjährige hat sie ihr Elternhaus verlassen, angeworben von einem so genannten Broker für eine Baumwollspinnerei in Tamil Nadu. In den Dörfern um Tirunelveli im Süden des Bundesstaates haben sie leichtes Spiel. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Armut erdrückend. Es werden Lohnpauschalen versprochen: rund 400 bis 600 Euro für Drei-Jahres-Verträge. Für die Mädchen und ihre Eltern eine hohe Summe. Brautfamilien müssen traditionell Mitgift zahlen, um ihre Töchter „an den Mann“ zu bringen.

Die Realität: leere Versprechungen
Verheiratet zu sein ist noch immer das einzig vorstellbare Lebensmodell für viele junge Inderinnen. Denn erst die Ehe sichert sie sozial ab und macht sie zu einer „Sumangali“. Das tamilische Wort beschreibt das Leben einer verheirateten Frau, die glücklich ihre Tage verbringt. Eine solche Zukunft malte sich auch Jeya aus. Doch ihr Traum platzte jäh.
Neben den anstrengenden Schichten, keinem freien Wochenende oder Urlaub, sind die „Sumangali“-Arbeiterinnen schutzlos Gewalt, sexueller Belästigung und einer permanenten Kontrolle ausgesetzt. „Bei einem Telefonat nach Hause durften wir gerade einmal ,Hallo‘ sagen.“ Nach drei Jahren wurde Jeya mit nur 15.000 Rupien (175 Euro) abgespeist. Sie bekam nie eine einzige Überstunde bezahlt. Dafür quälen sie heute Kopf- und Rückenschmerzen. „Mein Körper ist kaputt“, blickt sie verschämt zu Boden und streicht sich über ihren roten Sari. „Von einer Heirat träume ich nicht mehr. Ich wünsche mir nur, dass meine jüngere Schwester weiter zur Schule gehen kann. Sie soll es einmal besser haben.“

Die neunzehnjährige Manimegalai machte ähnliche Erfahrungen wie Jeya. Ihre Stimme versagt, als sie von den männlichen Aufsehern in der Baumwollspinnerei berichtet. „Sie behandelten uns wie Hunde, erlaubten uns nicht einmal Wasser zu trinken. Wir mussten ohne Schutzhandschuhe arbeiten. Es kam immer wieder zu Unfällen. Einige Mädchen verloren dabei Finger.“

Arbeitsunfälle
Was Verlust bedeutet weiß auch Narmadha Devi. Vorsichtig schiebt ihre Mutter Shanthi das dunkle Haar der Tochter zurück – es ist eine Perücke. Narben kommen zum Vorschein. Sechs Monate nachdem sie als Dreizehnjährige in einer Spinnerei angefangen hatte, kam es zu einem fatalen Zwischenfall. „Es ging ganz schnell. Mein Haar verfing sich in der Maschine.“ Das Mädchen wurde regelrecht skalpiert. Beistand von der Firma während des langwierigen Genesungsprozesses blieb aus. Nur einmal 118 Euro zahlte das Management für die Erste Hilfe. „Dabei kostet die Nachbehandlung jährlich 140 Euro“, klagt die Mutter, die untröstlich ist, weil die Tochter mit 22 Jahren noch nicht verheiratet ist. Gleichzeitig ist Shanthi stolz, denn Narmadha Devi geht wieder zur Schule. Und sie arbeitet tageweise in einer nahegelegenen Spinnerei. „Ich habe keine Wahl. Es gibt derzeit keinen anderen Job für mich.“

Diskriminierung von Frauen
Jeya, Manimegalai und Narmadha Devi sind keine Einzelschicksale. Das weiß keine besser als Sudharani, Mitarbeiterin einer kfb-Partnerorganisation. Sie wirkte an einer Studie über die Arbeitsbedingungen von Frauen mit. Zur Stellung der Frau in Indien befragt zeichnet sie ein düsteres Bild. Die gelernte Physiotherapeutin spricht schonungslos über Gewalt, Abtreibungen von weiblichen Föten und das Problem der Mitgift. Obwohl schon seit Jahrzehnten verboten, lässt sich diese Tradition nicht ausrotten. Die Familie der Braut würde ihr Gesicht verlieren, falls sie sich weigerte, eine Aussteuer zu bezahlen. Mädchen sind deshalb für arme Familien eine große finanzielle Bürde. „Die Diskriminierung von Frauen ist systematisch verankert. Mädchen sind in der Gesellschaft wenig bis nichts wert“, sagt Sudharani. Sie gibt aber gleichzeitig zu bedenken: „Indien ist voller Gegensätze und Extreme. Das Land bewegt sich zwischen Armut und Reichtum, Tradition und Moderne.“

Indien ist vielfältig und widersprüchlich
Es liegen Welten zwischen den Wirtschaftsmetropolen mit Hochhäusern, Banken, Shopping-Malls und den Dörfern im südlichen Tamil Nadu. „Es ist ein extrem trockenes Gebiet. Die Menschen hier sind sehr arm. Nur in der Textilindustrie finden sie Arbeitsplätze“, erklärt Arockiasasamy Britto. Seine Menschenrechtsorganisation „Vaan Muhil“ hat ihren Sitz in der Hochburg der indischen Baumwollspinnereien. 6.250 Textilunternehmen sind in diesem Bundesstaat angesiedelt. Ihre Kunden finden sie nicht nur in Indien, sondern vor allem in Nordamerika und Europa. Die internationalen Bekleidungsketten machen Druck. Schnell und preiswert heißen die Losungsworte. Mr. Britto schildert die Folgen: „Die Fabriksbesitzer in Tamil Nadu sind geradezu hungrig nach billigen Arbeitskräften. Sie finden sie in den Dörfern, in den untersten Kasten, in den jungen Frauen.“

Den „Sumangali“-Alptraum bekämpfen
Der Ausbeutung setzt „Vaan Muhil“ Aufklärung in den Familien, Rechtshilfe für Betroffene, Forderungen nach gerechter Entlohnung und Bildungsarbeit entgegen. Vor kurzem wurde sogar eine Schneiderei für fair produzierte Kleidung eröffnet. Nach Schätzung von „Vaan Muhil“ schuften 150.000 bis 200.000 Mädchen nach dem „Sumangali-Schema“ in der Textilindustrie. Sie werden als Lohnsklavinnen missbraucht, damit billig Baumwolle und Kleidung produziert werden kann. Das Endprodukt sind T-Shirts um fünf Euros. Diese Schnäppchen landen dann in den Schränken modebewusster Europäerinnen und Europäer.

Von „Sumangali“ haben die wenigsten gehört. Das möchte die Katholische Frauenbewegung ändern. Die Aktion Familienfasttag legt heuer den Schwerpunkt auf „Billig ist doch zu teuer. Faire Arbeitsbedingungen für alle“.

Auf www.teilen.at gibt es eine Unterschriftenkampagne gegen die Lohnsklaverei und weitere Informationen. Arockiasasamy Britto bedankt sich: „Jede Unterschrift ist eine Unterstützung für unsere Ziele: Das Aus des ,Sumangali‘-Alptraums und eine bessere Zukunft für Indiens Frauen.“ 

FAKTEN

Sklavin statt Braut 

„Sumangali“ bedeutet „glückliche Braut“. Die Fabriksbesitzer verwenden den Begriff, um Mädchen aus armen Dörfern anzulocken. Sie versprechen ihnen eine Ausbildung und dass sie ihre Mitgift verdienen können. Doch was sie erwartet sind:

  • Ausbeutung statt Ausbildung
  • Arbeit, die krank macht
  • Hungerlöhne und sexuelle Übergriffe
  • Unterkünfte wie Gefängnisse

Interview

Familienfasttag fordert Fairness

„Wir werden uns weiter einsetzen, dass jede Frau die Chance auf ein gutes Leben hat“, versprach kfbö-Vorsitzende Barbara Haas bei ihrem Besuch in Indien.

Was sind die stärksten Eindrücke?
Barbara Haas: Es ist schon erschütternd, über „Sumangali“ zu lesen. Mit einem solchen Mädchen selber zu sprechen ist noch einmal etwas anderes. Wenn sie erzählt, sie hat drei Jahre gearbeitet und am Ende keine einzige Rupie bekommen … .
Wir haben hautnah die Situation in den Spinnereien erlebt. Wie laut und heiß es dort ist und wie schwer das Atmen fällt, das war für mich nicht vorstellbar.

Können wir in Österreich etwas gegen diese Missstände tun?
Wir können das eigene Konsumverhalten überdenken und überlegen: Brauche ich das alles, muss alles noch billiger sein? Meine Aufgabe ist es jetzt, zu informieren – auch darüber wie ernsthaft unsere Partner vor Ort die Projekte umsetzen. Mit unserer Hilfe stärken sie die Frauen, damit sie ein selbstermächtigtes Leben führen können.

Rund um den Familienfasttag fordert die kfb wieder zum Teilen auf. Was bedeutet Teilen?
Die Fastenzeit bietet die Chance, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, zu reduzieren und das was übrig bleibt zu geben. Das eigene Fastenopfer bewirkt etwas. Organisationen wie die kfb können gezielt damit arbeiten. Das stärkt uns letztlich alle.

Barbara Haas und Sumangali ArbeiterInnen

Bild: Barbara Haas, kfbö-Vorsitzende, traf in Indien ehemalige „Sumangali“-Arbeiterinnen.