Eine Weihnachtsgeschichte von Simon Ludescher
Marius lag auf dem Boden und starrte an die Holzdecke. Er folgte den feinen Linien der Maserung bis zu den Astlöchern, die in unregelmäßigen Abständen den gelblich-weißen Fichtenhimmel unterbrachen wie kleine, kreisrunde Sterne. Marius verband die Punkte zu fantasievollen Konstellationen. In der Ecke kombinierte er mit Gedankenlinien vier Astlöcher zum Sternzeichen des großen Schreibtisches. Auf der anderen Seite der Decke konnte er in den Wirbeln der Maserung eine Couch entdecken. Dort, wo sich Decke und getäfelte Wand in einer Art Fichtenhorizont trafen, erkannte Marius in den unregelmäßigen Mustern das Sternbild des Regals. So füllte er gedanklich die Leere, die der Raum ihm gähnend entgegenstreckte. Kein Schreibtisch, keine Couch und keine Regale schmückten den Raum, der ab heute sein Arbeitszimmer hätte sein sollen. Ohne aufzustehen, ließ er seinen Geist durch die restlichen Räume wandern, wo sich ähnliche Bilder boten. In den vergangenen Monaten hatte er die Wohnungseinrichtung geplant: eine bunte Mischung aus Alt und Neu, den Lieblingsstücken aus vergangenen Lebensphasen und sorgfältig ausgewählten Akzenten aus Möbelhäusern und Onlineshops. Die Wohnung seiner Gedankenwelt war nun im Verblassen begriffen, wich einer unangenehmen Wirklichkeit aus kahlen Wänden und leeren Winkeln.
die überraschung
Die Nachricht hatte ihn am frühen Morgen erreicht. Es war noch dunkel gewesen, als sich Marius aus dem Sitz des Nachtzuges geschält und mit Rucksack und zwei Rollkoffern den Heimweg angetreten hatte. Sieben Jahre Wien hatte er hinter sich, aber sein Blick richtete sich nach vorne, die neue Arbeit, die neue Wohnung, das neue Leben im alten Vorarlberg. Die Häuser hier waren nur spärlich geschmückt mit Weihnachtsbeleuchtung. Energiekrise schlug 22. Dezember.
Er hatte sich und die Koffer einer schwach beleuchteten Straße entlang geschoben, sein Schatten mal hinter, dann unter, schließlich vor ihm, als ein Anruf sein frühmorgendliches Träumen gestört hatte. Der Umzugslaster habe einen Unfall gehabt.
Verletzte? Zum Glück nicht. Das Fahrzeug? Totalschaden. Die Ladung? Muss überprüft werden, sieht okay aus. Die Lieferung? Sie werden sich was überlegen, aber vor Weihnachten könnte es schwierig werden.
Die Absage
Marius lag auf dem Boden und starrte an die Holzdecke. Neben ihm zwei Rollkoffer und ein Rucksack. Um ihn herum die leere Wohnung. Auf seinem Bauch lag noch das Handy. In Grün die Nachricht an seine Freunde. Umzug abgesagt. Feier abgesagt. Danke für eure Bereitschaft. Darunter die Fragen, was denn passiert sei, was er jetzt vorhabe, wie man helfen könne. Ein Unfall. Weiß nicht, mal sehen. Nein, geht schon irgendwie, danke.
Die Glocke
Langsam wurde es dunkel draußen. Marius schleppte sich zum Fenster. Am Nachbarhaus blinkten Lichterketten und ein lebensgroßer Weihnachtsmann strahlte rot glänzend vom Dach. 22. Dezember schlug Energiekrise. Marius‘ Lichterketten lagen in einem Karton in einem Umzugslaster in einer Werkstatt in der Nähe von Linz. Ob er sie aufgehängt und angezündet hätte, konnte er nicht sagen. Stattdessen mimte die Holzdecke im Dachgeschoss den Sternenhimmel mit ihrem lichterlosen, unruhigen Stillstand.
Unvermittelt ertönte ein Geräusch. Es dauerte einige Augenblicke, bis Marius dieses einordnen konnte. Es war das erste Mal, dass er die Glocke seines neuen Zuhauses hörte. Seine Gedanken und Gliedmaßen schließlich sortiert, stolperte er die Treppe nach unten und öffnete die Eingangstür.
„Umzugsservice!“ schallte ihm eine vertraute Stimme entgegen und das dazugehörige Gesicht erstrahlte im Licht der Außenlampe.
„Willkommen zurück“, tönte es etwas leiser aus der zweiten Reihe. Von noch weiter hinten meinte Marius ein leises Grunzen zu hören. Bevor er sich darauf konzentrieren konnte, umschlossen ihn schon mächtige Arme.
„Murat, Bianca, Clemens, was macht ihr hier? Der Umzug ist doch abgesagt.“
„Der Umzug ist deine Sache, aber um eine Feier abzusagen, braucht es einen Mehrheitsbeschluss. Und der ist für die Party ausgegangen“, meinte Bianca, drückte sich an Murat vorbei und trippelte die Treppe nach oben. In den Armen trug sie einen kleinen, dreibeinigen Klavierhocker. Marius hatte gar keine Zeit, zu bewundern, wie mühelos sie auf dem Weg ihre Schuhe abgestreift hatte, da traten auch seine anderen beiden Freunde an ihm vorbei.
Das Chaos
„Pack ruhig mit an, wir haben noch einiges im Auto“, meinte Clemens vergnügt und wuchtete einen gepolsterten Esszimmerstuhl die Stufen hinauf. Aus der nachdenklichen Melancholie in die plötzliche Realität des geschäftigen Chaos gerissen, folgte Marius der Aufforderung und trug erst eine Kiste mit Getränken, dann einen etwas angetrockneten Adventkranz und schließlich mithilfe Biancas einen verstaubten Gartentisch nach oben in sein Esszimmer.
„Du hast doch nicht gedacht, wir lassen zu, dass ein Unfall dir deinen Einzugstag verdirbt?“ lachte Murat, während Marius, noch sichtlich verdutzt, das eigenwillig eingerichtete Esszimmer betrachtete. Da standen, rund um einen kürzlich aus dem Keller geborgenen, zusammenklappbaren Gartentisch, vier Stühle und Hocker, die nicht unterschiedlicher sein hätten können. Neben Esszimmerstuhl und Klavierhocker hatten seine Freunde auch noch einen Bürostuhl aufgetrieben und einen Plastikstuhl, der sogar zum Tisch zu gehören schien. In Kombination mit der frisch renovierten Wohnung wirkte dieses Potpourri an Möbelstücken beinahe grotesk. Dennoch strahlte es mit den Menschen, die nun um den gedeckten Tisch saßen, eine gewisse Gemütlichkeit aus.
Als die Haustürklingel ein weiteres Mal läutete, wusste Marius Bescheid. Ohne zu zögern bat er seine Nachbarn Sybille und Walter in die Wohnung. Er half ihnen, die mitgebrachten Stühle zwischen denen seiner Freunde zu platzieren und hängte eine Lichterkette in das große Fenster, durch das sie das heitere Treiben wohl von nebenan beobachtet hatten.
Die Fülle
So füllte sich die vor kurzem noch leere Wohnung mit Kerzenschein und Gelächter, mit Weißt-du-nochs und Wir-sollten-wieder-einmals, mit menschlicher und Kaminofenwärme. Diese wurde immer wieder kurz durch einen kalten Luftzug unterbrochen, wenn Walter wieder einmal nach nebenan eilte, um noch etwas aus dem Nachbarhaus zu holen. Stunden verstrichen und mit ihnen die Sorgen, die Marius noch durch den Tag begleitet hatten. Lieder erklangen aus Lautsprechern und freudengefüllten Lungen. Arme umschlossen Körper, strichen über fröstelnde Rücken zum Abschied vor der Haustür. Vorweihnachtszeit schlug Einsamkeit.
Die Ankunft
Es war weit nach Mitternacht, als Marius sich schließlich auf die geliehene Matratze legte und sich in geliehene Decken schmiegte. Schmunzelnd dachte er an den Abend und daran, wie ausgerechnet ein gutgemeintes Durcheinander die Enttäuschung um die verlorengegangene Perfektion heilen konnte. Das Licht der Glühbirne warf Schatten auf den Holzsternenhimmel über ihm. In Gedanken verband er die Punkte, entdeckte die Initialen seiner Freunde und Nachbarn, ein Herz und eine Glocke, füllte Decke und Gedanken mit dem, was er hatte und nicht dem, was ihm fehlte. Als er schließlich das Licht löschte und die Augen schloss, klangen die Erlebnisse des Abends in einem Satz nach, die ihn in den Schlaf begleiteten: Er war angekommen. ◀
Der Autor ist Religions- und Englischlehrer, Poetry-Slammer und Schriftsteller in Feldkirch.