Erlebnisse eines Jesuiten in Bulgarien.

Glaubenserfahrungen bei den Straßenkindern

Teil 3 von 3

P. Markus Inama SJP. Markus Inama SJ
ist Rektor des Jesuitenkollegs
in Innsbruck und
Vorstandsmitglied der
CONCORDIA–Sozialprojekte

In unserem Sozialzentrum für Kinder und Jugendliche in Sofia begannen wir bald, die Jugendlichen vor dem Frühstück zu einem Gebet in die sogenannte „Kapelle“ einzuladen. Einige Volontärinnen hatten den Raum mit einfachen Mitteln so hergerichtet, dass eine stimmungsvolle Atmosphäre entstand.
Bei der Vorbereitung der Impulse in unserer „Kapelle“ halfen viele mit. Manchmal ergaben sich Diskussionen über schwierige Bibelstellen. Zum Beispiel Gleichnisse, in denen Gewalt oder Bestrafung vorkommen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollten wissen, wie das heute zu verstehen sei. Sie fragten, wieso es in der Bibel überhaupt bedrohliche Szenarien brauchte.

Umgekehrte Hierarchie
Gewalt war in unserem Haus ein ständiges Thema. Die Kinder waren traumatisiert, weil sie in ihren Familien oder in anderen Heimen Gewalt erfahren hatten. Wir vermieden daher solche Stellen bei unseren Gebeten. Auch ich hatte meine Schwierigkeiten mit diesen Passagen. Eine Erklärungsmöglichkeit war jedoch, dass Jesus eine umgekehrte Hierarchie angewendet hat. Seine Rede wurde umso schärfer, je mächtiger und eingebildeter die Menschen waren, mit denen er zu tun hatte. Daraus konnten sich auch Jesu harte Worte in besagten Stellen über Gewalt erklären. Es gehört für mich zu den beschämendsten Erfahrungen in der Kirche, dass Menschen, die Macht über Kinder haben, diese Stellen, die eigentlich an sie selbst gerichtet sind, dazu verwenden, um Kinder einzuschüchtern und Druck auszuüben.

Regeln ...
Die Kritik Jesu an den Schriftgelehrten ist mir sympathisch. Jesus kritisierte die Gelehrten, die viel redeten, aber nichts in die Tat umsetzten. Im Gegenteil: Durch ihre Worte vergrößerten sie die Last, welche die Menschen zu tragen hatten. Zum Beispiel indem sie Regeln aufstellten, die die Menschen schwer einhalten konnten.

... und Chancen.
In Sofia war es im Grunde unsere Hauptbeschäftigung, Menschen, die den Ansprüchen der Gesellschaft nicht genügten, eine Chance zu geben. Der Spielraum, den wir den jungen Leuten boten, beflügelte viele. Die jungen Menschen brauchten dieses Signal, damit sie wieder an ihre Zukunft glauben konnten.

Ohne Regeln ging es aber auch bei uns nicht. Die Frage, wie oft jemand, der oder die gegen die Regeln des Hauses verstoßen hatte, eine zweite Chance bekam oder bekommen sollte, war ein Knackpunkt in unserem Team. Immer wieder kam es vor, dass ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin in einer angespannten Situation überreagierte und harte Strafen aussprach oder für das Vergehen eines Einzelnen eine ganze Gruppe bestrafte, weil nicht herausgefunden werden konnte, wer die Tat begangen hatte. Gerade in diesem Punkt spürte ich den hohen Anspruch der Botschaft Jesu. Den jungen Menschen Fehler zu vergeben und es noch einmal mit ihnen zu versuchen, war schon für einen Einzelnen schwierig – uns als Team auf eine Vorgehensweise zu einigen, wem wir eine zweite und eine dritte Chance gaben, war eine noch größere Herausforderung.

Von Pater Markus Inama jüngst als Buch erschienen:
„Der Hoffnung ein Zuhause geben. Die vergessenen Kinder von Sofia“
(Styria)

(aus dem KirchenBlatt Nr. 47 vom 23. November 2017)