Reihe "Welt der Religionen" von Aglaia Poscher-Mika
Dem Menschen ist wahrlich große Verantwortung gegeben. Er bewegt sich, sobald er geboren ist, im Spannungsfeld zwischen Himmel und Erde. So gibt es irdische Anteile in uns, die körperliche Grundbedürfnisse bewirken, wie Schutz, Ruhe, Nahrung und soziale Beziehungen. Hingegen die himmlischen Anteile in uns rufen die Sehnsucht wach nach dem, was außer der sinnlich erfahrbaren Welt noch liegen kann: eine tiefere Bedeutung, eine göttliche Schöpferkraft - und damit eine Verantwortung gegenüber der Frage, wie wir mit dem uns geschenkten menschlichen Dasein umgehen. Hier ist unser Gewissen, die Reflektionskraft des über sich selbst nachzudenken fähigen Homo sapiens gefordert.
Das katholische Christentum, aber auch der sunnitische sowie alevitische Islam kennen Feiertage im Monat Mai, welche genau diesen Themen gewidmet sind.
Am 10. Mai, damit vierzig Tage nach dem diesjährigen Osterfest, gedenken die katholische und auch die evangelische Kirche der Auffahrt Jesu Christi in den Himmel. Ein überirdisches Wunder, welches der Wissenschaft bis heute Kopfzerbrechen bedeutet. Doch geht es wirklich darum, ob ein menschlicher Körper die Schwerkraft überwinden kann? Vielleicht geht es um die Essenz dieses Ereignisses: Jesus hat sich nach seinem Leiden und seiner Auferstehung ganz vergöttlicht, er legt alle menschlichen Anteile ab und vereinigt Himmel und Erde in dieser letzten, sichtbaren Bewegung nach oben.
Die bedeutungsvolle Nacht für Aleviten („Hizir Ellez“, 5. bis 6. Mai) steht ebenfalls für die Vereinigung zwischen Himmel und Erde. Dem Glauben nach treffen sich die beiden Schutzengel Hizir und Ilyas (letzterer gleicht dem Propheten Elia), um Himmel und Erde zu vereinen. Gläubige bitten in dieser Nacht um Gesundheit, in Form von innerem Gleichgewicht zwischen Körper und Seele.
Wieviel der Mensch mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren muss, zeigt die sunnitische „Nacht der Rechenschaft“ („Beraat Kandil“, heuer vom 30. April bis 1. Mai). Mit Betrachtungen und Gebeten versuchen Muslime, ihre Beziehung zu Gott und den Mitmenschen zu bereinigen - ähnlich der katholischen Beichte, jedoch ohne Vermittlung eines Priesters.
Im Monat Mai erreicht also die Natur ihre volle Blüte - vielleicht auch, um den Menschen das „Mehr“ der sinnlich wahrnehmbaren Welt erahnen zu lassen.
Aglaia Poscher-Mika, MMA
Beauftragte der KatholischenKirche Vorarlberg
für den Interreligiösen Dialog;
Musiktherapeutin, Sängerin, Stimmbildnerin.
aglaia.mika@kath-kirche-vorarlberg.at
(aus dem KirchenBlatt Nr. 18 vom 3. Mai 2018)