P. Christoph Müller erzählt in der KirchenBlatt-Serie „Mein Lieblingskunstwerk“ über seine Begegnung mit Ferdinand Gehr, als dieser das Altarbild von St. Gerold malte. Zwar hatte P. Christoph nie ein Lieblingsbild, aber Gehrs Fresko könnte es vielleicht einmal werden.

P. Christoph Müller

Als Jugendlicher weilte ich 1966 in St. Gerold, um beim Heuen und bei Ausgrabungen mitzuhelfen. Und so erlebte ich, wie der schmächtige Schweizer Künstler Ferdinand Gehr (1896-1996) in der Kirche das Fresko „Menschwerdung“ schuf. Er sollte den geheimnisvollen Anfang des Johannesevangeliums, den sogenannten Prolog, malen - also darstellen, wie das Wort im Anfang bei Gott war, dann den Abstecher des Wortes in unser „Fleisch“ und schließlich die Wiederkunft des Wortes am Ende der Zeiten. Gehr musste nicht lange grübeln. Denn die Bilder stiegen, wie er einmal sagte, während des Gebetes wie von selbst in ihm hoch. Er bräuchte sie dann nur noch umzusetzen. Der Startschuss ist ganz oben: „Im Anfang war das Wort.“ Gehr hat Gott nicht als geschlossenen Kreis oder als liegende Acht abgebildet, sondern dynamisch. Denn das Wort wollte ja nicht in sich ruhend verbleiben, sondern hinabsteigen in seine Schöpfung, in den Stammbaum des Volkes Israel (links). An diesem Baum sieht man eine Frucht, Maria, in deren Schoß das Wort heranwächst. In der Folge wohnte es dann mitten unter uns, arm, entblößt, solidarisch. Drei Geheimnisse. Den Tod am Kreuz, die darauffolgende Auferstehung und schließlich die noch ausstehende Wiederkunft hat Gehr genial in eine einzige Komposition (oben rechts) eingefangen: ein Kreuz zwar (der Tod), doch goldfarben (die Auferstehung) und vor blauem Hintergrund (die Wiederkunft in Herrlichkeit). Das sind die drei Geheimnisse, die wir in jeder Eucharistie feiern (unten rechts): „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ - Als ich Gehr einmal nach den drei für mich störenden „Blumenkisten“ befragte, sagte er: „Die sind nur da, um das Bild zusammenzuhalten.“

Gehr’s Kunst war nicht unumstritten. Einer Frau, die ihm einmal zurief: „Was Sie da malen, kann jedes Kind!“, antwortete er: „Das stimmt - aber Sie nicht.“ Wahrnehmung der Kinder. Kinder nehmen das Bild anders wahr als wir. So z.B. der kleine Muslim Iman,
der im Sommer mal mit seiner Pflegemutter in der Kirche saß. Während der Predigt schubste er sie plötzlich und flüsterte ihr zu: „Mama, schau - da vorne, mein Name.“ Sie lächelte und sagte: „Ja wo denn?“ - „Ganz oben, siehst du nicht? IMAN FANG WAR DAS WORT.“
Paulinische Freude. An der kindlichen Entdeckung hätte Paulus seine Freude gehabt, schrieb er doch den Ephesern: „Gott hat uns erwählt schon vor der Erschaffung der Welt.“ Den kleinen Iman - und uns alle.

Zum Autor
P. Christoph (Pierre) Müller, geboren 1947 in Lausanne (CH) und aufgewachsen in Zürich. 1969 trat er ins Benediktinerkloster Einsiedeln ein. Nach Studien der Romanistik in Fribourg war er Lehrer für Latein und Französisch am Gymnasium in Einsiedeln und zehn Jahrelang Novizenmeister des Klosters. Ab 2003 in Blons im Großen Walsertal zuhause, leitet er den Pfarrverband Thüringerberg, St. Gerold und Blons. Buchautor u.a. über den Jakobsweg („Neuland unter den Sandalen“) und die Benediktsregel („Benedikt für Anfänger“).
Sein Interesse gilt von klein auf nicht so sehr der Kunst, sondern vor allem der Fauna und Flora. Wolfgang Ölz

Aus dem KirchenBlatt Nr. 20 vom 14. Mai 2020.