Die Grenze als eigentlichen Ort der Erkenntnis, das hat die Psychotherapeutin und Theologin Bärbel Knittel bei dem Religionsphilosophen und protestantischen Theologen Paul Tillich (1886-1965) für sich entdeckt. Brücken sind ihr ein Zeichen für dieses Leben auf der Grenze. Heimat ist für sie kein geografischer Ort, sondern eine Erfahrung, oft nur ein Moment, in dem man offen und empfangsbereit ist wie eine leere Tonschale.

Edith Burger

Die Adventszeit, Vorbereitungszeit, Aufbruchszeit, Zeit auf der Grenze. Wie lebt es sich auf der Grenze? Ich habe eine Frau besucht, die vielfältige Erfahrungen mit Aufbrechen, Unterwegs sein und dem Leben auf der Grenze hat.

Barbara Knittel Mag.a Bärbel Knittel

Zwischen Ardetzenberg und einer Bahntrasse, im Hintergrund moderne Wohnblocks, liegt irgendwo dazwischen das Wohn- und Praxishaus von Mag.a Bärbel Knittel und ihrem Mann. Ein Gebäude etwas aus der Zeit gefallen, am Anfang oder am Ende von Gisingen, auf der Grenze zur Stadt. „Auf der Grenze“ ist für die Psychotherapeutin und Theologin ein Lebensthema, wozu auch das stetige Loslassen und Aufbrechen gehört.
1940 mitten im 2. Weltkrieg geboren in Graz als dritte Tochter einer Deutschprofessorin aus dem Ruhrgebiet und eines hochbegabten Musikpädagogen und überzeugten Nationalsozialisten; nach dem frühen Tod des Vaters 1943 im Russlandfeldzug vaterlos mit ihren zwei Schwestern aufgewachsen; groß geworden in einer kargen Zeit, bei einer hart arbeitenden Mutter, mit einer chronisch kranken Schwester, in einer Familie, in der alle männlichen Verwandten im Krieg umgekommen waren; unter großem musikalischem Erwartungsdruck sich entwickelnd, der väterliche musikalische Genius sollte sich doch bahnbrechen; voller Sehnsucht nach diesem unbekannten Vater, mit einem Fremdheitsgefühl in sich und auf der Suche nach Heimat, so seien holzschnittartig Bärbel Knittels Kindheits- und Jugendtage gezeichnet.

Heimat versprach ihr die sich nach dem Krieg in Graz neu formierende und großen Zustrom verzeichnende evangelische Kirche: Zugehörigkeit, Werteorientierung vor allem durch Personen, die sie mit ihrem persönlichen Glaubenszeugnis faszinierten, deren indoktrinierende Art sie heute kritisch sieht. Dies war eine Motivation, Theologie in Wien zu studieren, neben dem eher vielleicht noch pubertären Streben, ihre der Kirche fernstehende Mutter bestmöglich zu schockieren.

Bärbel Knittel sagt nachdenklich: „Von meiner Mutter habe ich eine Skepsis mitbekommen, die mir vor allem in der Sprache geblieben ist. Ich habe mich immer irgendwie fremd erlebt, auch im Theologiestudium. Die Schwierigkeit mit der Theologie war, dass für mich vieles fremd war, vor allem in der Sprache. Zu diesem Fremdsein zu stehen, das hat eine Weile gedauert. Ich habe manches wirklich nicht verstanden. Ich habe aber zunächst gedacht, dass sie wohl Recht haben müssen, da sie so überzeugt redeten. Sie schienen einer Wahrheit auf der Spur. Ich habe daher immer wieder probiert, es mir auch einzuverleiben. In der damaligen Zeit, Anfang der 60er Jahre, war in der evangelischen Theologie dogmatisch die Rechtfertigungslehre, die Gnadenlehre im Vordergrund. Die Worte selber habe ich schon nicht verstanden. Ich habe mich immer gefragt, was meinen sie? Ich habe diese Sprache dann auch teilweise selber verwendet in Gottesdiensten und mich dann danach gefragt: Weißt du, was du da eigentlich sagst? Es war für mich eine Ghettosprache. Eine Sprache nur für Spitzen-Theologen, abgegrenzt von der normalen Welt und Kultur.“

Die Verbindung, die Brücke zwischen der Sprache von Theologenwelt und normaler Welt eröffnete Bärbel Knittel ihr theologischer Urlehrer, wie sie ihn nennt, Paul Tillich (1886-1965). „Bei Tillich habe ich mich und den Autor wieder gefunden. Das ist überhaupt ein Kriterium für mich geworden: wenn ich den Schreiber in seiner Betroffenheit nicht finde, lege ich das Buch weg.“
Anders bei Tillichs Sammelband „Auf der Grenze“, dieser wird ihr Wegbegleiter. „Tillich hat Gedanken geäußert, die zu seiner Zeit neu waren, in dem er ganz viel von der Philosophie in die Theologie mitgenommen hat. Er ist mit der Sprache, in einer Weise umgegangen, die eben keine theologische Sprache war! Aber ihn habe ich verstanden. Keine abgehobene Sprache, eben keine Ghettosprache!“
Er spricht sie an mit seinen Gedanken, die sie in folgende Worte fasst: „Er sagt, er lebt auf der Grenze, d.h. du kannst dich nirgends nur einwohnen, sondern es gilt immer wieder zu schauen, um welche Entscheidungen geht es jetzt. Wo hast du dich zu selbstverständlich eingewohnt, dass nichts Neues mehr in dein Leben kommt. Und hältst du es auch aus, dass immer auch Bewegung drinnen ist und nicht einfach ein Niederlassen für den Rest des Lebens?“

Für sich selbst hat Bärbel Knittel diese Frage eindeutig beantwortet: „Ich habe den Eindruck, ich wäre tot, wenn es nicht so wäre, wenn es keinen Aufbruch gäbe und ich auch nicht diese Spannung in mir spürte. Ich merke mit zunehmendem Alter auch eine zunehmende Skepsis, aber nicht in dem Sinne, dass ich radikal verurteilend wäre, sondern ich hinterfrage, was sich da als Ideologie verfestigt in mir, wo muss ich wieder hinschauen und mich befragen, mich Spannungen aussetzen. Ohne Spannung gibt es keine neue Erkenntnis. Wenn ich mich dem nicht aussetze, kommt nichts Neues herein.“

Sie versteht jedoch auch die Sehnsucht nach Beständigkeit und Konstanz bei vielen Menschen, aber diese gilt nicht für sie. Sie stellt bestimmt fest: „Die Spannungen sind für mich lebenswichtig! Es geht für mich nicht nur ums Aushalten, sondern es bringt auch eine innere Weitung, zu merken, dass ich auch verschiedene Positionen in mir habe und diese nicht nur außen zu finden sind. Ich bin mir in manchem unsicher. Manches kann ich innerlich nicht lösen: da gibt es einen Teil, der stimmt, und da gibt es aber auch einen Teil, der stimmt nicht.“
Wenn sich zu vieles in ihr ansammelt, dann macht sie „Tabula rasa“ in ihrem Hirn. Mit einem Spaziergang, dem bewussten Gehen in der Natur, wird manches leichter, klarer oder tritt zurück. Aber auch das ganz Stille hilft ihr, das Meditieren.

In ihrer Arbeit als evangelische Theologin in Graz und später nach ihrem Umzug auch in Vorarlberg hatte sie zunehmend das Gefühl, „dass ich in der Theologie zu viel über etwas rede, wo ich innerlich gar nicht nachkomme“. Sie wollte lieber im direkten Kontakt mit Menschen arbeiten und entschied sich, in die Psychotherapie einzusteigen, trotzdem sie Mutter von drei kleinen Kindern war. Ihr Mann, selbst engagiert als Oberarzt in Feldkirch, unterstützte sie in diesem Aufbruch sehr. Die Mühen haben sich gelohnt. Seit vielen Jahren ist sie als gefragte Erwachsenenbildnerin, Supervisorin und Psychotherapeutin im direkten Kontakt mit Menschen.
Sie verteilt nicht Ratschläge, sondern stellt Menschen in Aufbruchssituationen Fragen: „Was geht mit Ihnen mit, wenn Sie aufbrechen? Was lassen Sie nicht hier? Kennen Sie es auch, dass Sie in sich zu Hause sein können?“ Sie ermutigt die Menschen, dass ihre Kontaktfähigkeit - zu sich oder zu anderen oder zu dem, was einem umgibt - ja mitgeht!

Beim Glauben geht es ihr auch darum, Grenzen zu überschreiten. Nicht im evangelischen Bereich stecken zu bleiben, sondern viel in Kontakt zu treten in interkonfessionellen Begegnungen, das ist entscheidend für sie. „Konfession ist für mich kein Heimatthema mehr. Auch zu anderen Religionen zu schauen, wo kommen mir da Inhalte, Gedanken entgegen, die mich nicht nur gedanklich, sondern auch auf einer tieferen Ebene erreichen.“ Es geht ihr schon lange nicht mehr um richtig oder falsch, sondern sie ist immer wieder neugierig „was weitet die Menschen und was verengt sie.“

Heimat ist für Bärbel Knittel kein geografischer Ort mehr, in den sie sich einwurzeln könnte. Das hat sich verändert im Laufe der Jahre und der Umzüge. Naturerfahrungen sind für sie Erfahrungen von Heimat: „wo ich zutiefst berührt bin, von Details, die ich sehe, Stimmungen, die mich anrühren. Du musst verlangsamen können. Verlangsamen ist für mich eine Übung. Dass du innerlich nicht so im Hirn davonrast, das Innenkino ein bisschen zur Ruhe kommt, dass du überhaupt Momente erleben kannst und nicht schon weiter bist.“

Bärbel Knittel ergänzt: „Mir hat es sehr geholfen, was die Juden unter ‚Schalom‘ verstehen. Schalom ist kein Zustand, sondern eine Erfahrung, manchmal nur einen Augenblick lang. Wenn ich Menschen begegne, bei denen ich merke, da klingt etwas mir Vertrautes in ihnen auch an oder etwas, was mich neugierig macht, wo es wirklich Begegnung gibt: das sind Momente von Heimat für mich.“