Was bei der Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai auf dem Spiel steht, warum die Kirche das europäische Projekt unterstützt und weshalb Verhandlungen für einen neuen EU-Vertrag ein Risiko sind, sagt Österreichs Europabischof Ägidius Zsifkovics im Gespräch mit dem KirchenBlatt.

Interview: Heinz Niederleitner

Herr Bischof, in Ihrem Osterbrief an die Katholik/innen des Burgenlands haben Sie sehr deutlich für ein europäisches Engagement und für die Teilnahme an der Wahl zum EU-Parlament geworben. Warum ist diese Wahl so wichtig?
Zsifkovics: Wir stehen vor einer Entscheidung: Mit dieser Wahl zeigen wir entweder die Bereitschaft, mitgestalten zu wollen. Oder wir zeigen, dass es uns gleichgültig ist und wir in einem anonymen Desinteresse unsere Zukunft leben wollen. Ich werbe dafür, dass wir ein eindeutiges Zeugnis dafür geben, dass uns der Fortbestand dieses Friedensprojekts für eine gemeinsame Zukunft auf unserem Kontinent wichtig ist.

Vom „Friedensprojekt Europa“ wird aber wenig gesprochen, eher vom Brexit-Chaos, den politischen Volten in Ungarn oder der Korruption in Rumänien. Warum erscheint die EU vor allem als Problemansammlung?
Zsifkovics: In der politischen Landschaft und in den Medien werden stets negative Themen in den Vordergrund gestellt, weil man sich davon eigene Vorteile erhofft. Was wir stattdessen bräuchten, wären Wahlwerbung und Berichterstattung zu den Leistungen Europas. Das Burgenland hat zum Beispiel eindeutig von der EU profitiert. Wir sind von einem Land am ehemaligen Eisernen Vorhang in die Mitte gerückt. Die EU-Förderung als „Ziel 1“-Region hat viel bewirkt und wir schulden Europa unsere Unterstützung.

Aus der österreichischen Bundesregierung kommt der Vorschlag, einen neuen EU-Vertrag auszuhandeln. Aber ist das sinnvoll? Gibt es eine Garantie, dass neue Verträge besser sind als die alten?
Zsifkovics: Es gibt doch schon beim Einhalten der bisherigen Verträge viel Luft nach oben! Würden wir uns gut daran halten, könnten wir viele der anstehenden Probleme heute besser lösen – auch ohne die Verträge zu ergänzen. Natürlich braucht jeder Vertrag ab und zu eine Adaptierung. Man muss sich anschauen, wo so etwas sinnvoll ist. Aber es wäre gefährlich, alles aufzuschnüren, weil Europa derzeit in einer instabilen Situation ist. Der Schuss mit einem neuen Vertrag könnte nach hinten losgehen. Ich denke, es braucht keine großen neuen Verträge. Wir sollten erst lernen, gemeinsam umzusetzen, was wir bisher auch gemeinsam beschlossen haben.

Bei der EU-Parlamentswahl sind wir in der skurrilen Situation, dass die Briten noch einmal mitwählen, obwohl sie eigentlich schon draußen sein wollten. Schadet das der EU?
Zsifkovics: Das ist für uns alle unverständlich, aber einen großen Schaden erwarte ich mir nicht. Ich hoffe eher auf eine Stärkung jener britischen Kräfte, die gegen den EU-Austritt waren.

Sucht man heute nach besonderer Unterstützung für die europäische Einigung, dann wird man die katholische Kirche in der ersten Reihe finden. Warum ist das so?
Zsifkovics: Es liegt in den „Genen“ der katholischen Kirche, dass sie weltumfassend ist. Was die EU in Europa anstrebt, das vertritt die Kirche seit zweitausend Jahren weltweit: die Botschaft des Miteinander und Füreinander. Es ist eine Botschaft, die Menschen zusammenführt und keine, die sie auseinanderdividiert. Aus dem Auftrag des Evangeliums ist ersichtlich, dass wir keine Gegner der europäischen Einigung sein, sondern nur für ein gemeinsames Europa eintreten können.

Ist das so, weil die EU wie die Kirche eine Institution ist, die den Nationalismus überwindet?
Zsifkovics: Ja, die katholische Kirche ist jenseits des Nationalismus. Sie nimmt natürlich jede Nation, jede Sprache in ihrer Identität wahr und unterstützt sie. Aber das darf nie auf die Kosten des gemeinsamen Ganzen gehen. Wenn wir in Europa diesen Weg gehen würden, hätten wir viele Sorgen heute nicht.

Kritiker könnten aus kirchlicher Sicht einwenden: Das mit dem Gottesbezug in den EU-Verträgen hat nicht geklappt; die EU ist ein säkulares Projekt, das sich in manchem Handeln auch nicht mit katholischen Vorstellungen deckt.
Zsifkovics: Europa ist auf drei Hügeln gebaut: Die Akropolis von Athen steht für das Individuum, das römische Kapitol für das Recht und Golgota für die Auferstehung Jesu Christi. Mit der Auferstehung wird der Mensch erst wirklich zum Menschen und bekommen auch das Kreuz und das Leid einen Sinn. Das ist die „christliche DNA“ Europas. Wir wollen sie niemandem aufdrängen oder überstülpen. Doch Europa ist wie ein Baum, der zwar viele Blätter und Zweige hat, aber eben auch diese gemeinsame Wurzel. Es hieße an Europas Entstehung vorbeizugehen, würde man dies nicht erkennen.

Und wie erkennt man diese „DNA“ heute?
Zsifkovics: Erstens in der Spiritualität, auch wenn das nicht zwingend heißen muss, dass jemand bis ins letzte Detail an Gott glaubt; zweitens in der Solidarität, der Liebe zum Mitmenschen; und drittens in der Barmherzigkeit. Wenn diese drei Haltungen wieder Fuß fassen, dann kann es ein besseres Europa geben, das auch seine positive Wirkung in der Welt hat.

Ist es ungerecht, vom „alten Kontinent“ Europa zu sprechen?
Zsifkovics: Ja und nein. Auch Papst Franziskus hat einmal gesagt, Europa wirke alt, müde und kraftlos. Das bedeutet aber vor allem, dass es eine Erneuerung braucht, dass man das Alte kennen und in der Adaptierung für die heutige Zeit neue Wege finden muss. Europa hat seine Kraft und seine Wurzeln. Es ist unsere Aufgabe, die junge Generation auf diese Kraft und diese Wurzeln aufmerksam zu machen und uns nicht mit der derzeitigen Situation abzufinden.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat in den Kirchenzeitungen für einen Europapatriotismus geworben. Wann spüren Sie Europa positiv?
Zsifkovics: Ich fahre mehrmals in der Woche über Grenzen, die früher ein harter, Eiserner Vorhang getrennt hat. Jedes Mal denke ich mir: Danke, Europa.

aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 20 vom 16. Mai 2019