Cesare Zucconi ist Generalsekretär der Gemeinschaft Sant’Egidio in Rom und Gastreferent beim Diözesanforum am 11. und 12. Oktober in Dornbirn. Im KirchenBlatt-Gespräch erzählt er, was ihm mit Blick auf Gesellschaft und Kirche wichtig ist.

Interview: Philipp Supper

Herr Zucconi, blicken wir am Beginn kurz zurück zum Ursprung von Sant’Egidio: Wie und warum wurde diese Gemeinschaft gegründet?
Cesare ZucconiCesare Zucconi: Die Entstehung unserer Gemeinschaft ist eng verbunden mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Die Jugendlichen, die Sant’Egidio gegründet haben, waren ergriffen von dem Geist der Erneuerung und dem Frühlingswind, der in der Kirche spürbar war. Besonders bedeutend war der Impuls des Konzils, das Wort Gottes zum Mittelpunkt des Lebens zu machen. Die Bibel wurde für diese Jugendlichen zur ständigen Begleiterin in ihrem Alltag. Und natürlich spielt auch das Jahr 1968 eine Rolle. Der Mut, die Welt zu verändern und etwas Neues zu wagen, war damals sehr groß.

Wo nehmen Sie in der gegenwärtigen Gesellschaft wunde Punkte wahr? Wo braucht es unseren Einsatz als Christinnen und Christen?
Zucconi: Aus meiner Sicht gibt es aktuell zwei große Herausforderungen: zum einen die Einsamkeit, zum anderen die Ungleichheit in unseren Gesellschaften. Schon am Anfang der Bibel steht: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist.“ Und dennoch sind wir im Grunde eine Gesellschaft von Einsamen. Sowohl alte als auch junge Menschen sind davon betroffen. In der Atmosphäre dieser Einsamkeit wächst die Angst vor den anderen, Fremden. Das „Wir“ ist nicht mehr populär. Auch unsere Gemeinden sind oft eine Summe von Einzelnen, aber kein „Wir“. Dabei wäre genau das eine große Aufgabe der Kirche: missionarisch auf andere zuzugehen und ein „Wir“ zu bezeugen, in dem alle Menschen Platz haben können. Das Thema der Ungleichheit bezieht sich auf die Frage: Wie können die Armen in die Mitte des kirchlichen Lebens gestellt werden? Ich glaube, die Kirche sollte hier prophetisch sein und das betonen, was Papst Franziskus oft wiederholt: Christinnen und Christen dürfen an der Armut nicht vorbeigehen. Gerade wir in den reicheren Ländern des Westens sind da besonders herausgefordert. In Wohlstand geboren zu sein, ist kein Verdienst, sondern eine Verantwortung.

Die Freundschaft mit den Armen ist eines der Leitworte von Sant’Egidio. In der Tat macht es einen großen Unterschied, ob ich über arme Menschen rede, oder ob ich ihnen persönlich begegne und eine Beziehung zu ihnen aufbaue. Wie hat Sie persönlich der Kontakt mit den Armen verändert?
Zucconi: Mit 15 Jahren habe ich durch Sant’Egidio Kinder an der Peripherie von Rom kennengelernt. Dabei wurde ich mit ihrer Armut, ihren familiären und schulischen Problemen konfrontiert und habe eine für mich bis dahin unbekannte Welt entdeckt. Als ich nach meinem ersten Besuch wieder gehen wollte, hat eines dieser Kinder zu mir gesagt: Wann kommst du wieder? Diese Frage ist mir sehr nahe gegangen. Ich habe gespürt: Ich kann nicht einfach wieder gehen. Ich muss wiederkommen und ihnen helfen. Damals ist mir mit 15 Jahren klar geworden, dass ich etwas bewegen kann. Niemand ist zu alt oder zu jung, um anderen zu helfen. Wie die Welt von morgen aussieht, hängt von uns allen ab.

Was sind Ihre Kraftquellen? Und was hilft Ihnen, dass Sie in Ihrem Einsatz für die Armen nicht müde oder entmutigt werden?
Zucconi: Im Wesentlichen sind es zwei Dinge: das Gebet und die Gemeinschaft. Das Gebet ist die Quelle von Sant‘Egidio. Wir kommen täglich zusammen, hören das Wort Gottes und lassen uns von der Botschaft der Bibel stärken für unseren Einsatz. Sant’Egidio ist keine Gemeinschaft von Heldinnen und Helden oder von Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfern. Wir sind ganz normale Menschen, die einen gemeinsamen Weg gehen. Die Kraft von Sant’Egidio liegt nicht in den Individuen, sondern in dem, was uns verbindet: der Glaube und der Einsatz für eine bessere Welt. Die Gemeinschaft ist damit nicht nur eine Stütze für die Armen, sondern auch eine Stütze für alle, die sich bei uns engagieren. 

Beim Diözesanforum geht es um die Zukunft unserer Pfarrgemeinden. Mit Blick auf den Einsatz für die Mitmenschen: Was ist für Sie die größte Herausforderung für unsere Pfarren?
Zucconi: Hinausgehen zu den Menschen und Türen und Herzen zu öffnen - das ist für mich eine wichtige Aufgabe einer Pfarre. Auch Papst Franziskus betont das immer wieder. Dabei ist auch die Frage bedeutsam: Wie können Arme in den Mittelpunkt gerückt werden? Die Armen sind für uns nicht nur eine Schule des Lebens und des Glaubens, sondern auch eine Befreiung aus dem ständigen Kreisen um uns selbst. Die Armen dürfen deshalb nicht nur Thema des Caritas-Kreises sein, sie betreffen vielmehr die ganze Pfarre. Ich ermutige Pfarrgemeinden immer wieder, arme Menschen am Gemeindeleben zu beteiligen und eine Freundschaft zu ihnen aufzubauen. Überall dort, wo kleine Schritte in diese Richtung getan werden, erlebe ich, dass die Gemeinschaft in einer Pfarre vertieft wird und sie dadurch auch anziehend wirkt für andere.

Sant‘Egidio

Die christliche Gemeinschaft Sant’Egidio wurde im Jahr 1968 von Andrea Riccardi und anderen Jugendlichen an einem Gymnasium im Zentrum von Rom gegründet. Im Laufe der Jahre ist daraus ein Netzwerk von Gemeinschaften entstanden, die in über 70 Ländern vertreten sind.
Bei Sant’Egidio engagieren sich ehrenamtlich Frauen und Männer aus allen gesellschaftlichen Schichten, die sich im Hören auf das Wort Gottes für Menschen am Rande, für Frieden und soziale Gerechtigkeit ­einsetzen. Ihren Hauptsitz hat die Gemeinschaft
im römischen Stadtteil Trastevere.
www.santegidio.org

(aus dem KirchenBlatt Nr. 38 vom 19. September 2019)