Papst Franziskus hatte den Theologen und ehemaligen Kurienkardinal Walter Kasper gebeten, vor der Kardinalsversammlung (Konsistorium) am 20./21. Februar zum Thema Ehe und Familie zu sprechen und dabei auch kontroverse Fragen zu benennen. Kasper tat das mit großer Offenheit, sagt der Moraltheologe Martin Lintner.

P. Dr. Martin Lintner OSMP. Dr. Martin Lintner OSM
ist Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, Präsident der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie und Provinzial der österreichischen Servitenkommunität mit Niederlassungen in Tirol, Niederösterreich und Kärnten.

Interview: Hans Baumgartner

Im Jahr 1993 ist Walter Kasper als Bischof von Rottenburg/Stuttgart gemeinsam mit seinen Amtskollegen Oskar Saier und Karl Lehmann in einem Hirtenbrief für neue Wege in der Pastoral für wiederverheiratete Geschiedene eingetreten. Nun hat ausgerechnet ihn der Papst eingeladen, vor der Kardinalsversammlung zu sprechen. Was bedeutet das?
Lintner: Der Papst sieht in Ehe und Familie den Grundbaustein jeder Gesellschaft und einen zentralen Ort für die Glaubensweitergabe (Evangelisierung). Er sieht aber auch deutlich, wie sehr Ehe und Familie durch verschiedenste Umstände – Armut, politische Unruhen, Individualismus und Konsumismus … – zunehmend in eine Krise geraten. Da fragt er sich, wie kann die Kirche die Eheleute und Familien, besonders die Bedrängten und Gescheiterten, angemessen begleiten. Und passen die bisherigen Antworten der Kirche in Lehre und Praxis? Oder zeigen nicht die – trotz klarer Festlegungen seiner Vorgänger – anhaltenden Diskussionen den Bedarf an einer Neuorientierung? Deshalb, so denke ich, hat er ganz bewusst den theologisch anerkannten, in diesen Themen aber durchaus engagierten Walter Kasper eingeladen, um eine ehrliche und offene „Bestandsaufnahme“ zu machen. Dieses Vorgehen war schon, so wie die breite Befragung der Gläubigen zur Synode, ein neuer und bisher ungewohnter Schritt.

Es soll ja dann nach dem Referat auch eine „heiße“ Debatte unter den Kardinälen gegeben haben. Was hat Kasper „angestellt“?
Lintner: Nun er hat, so wie der Papst es ja gewünscht hat, vor allem im Abschnitt über den Umgang der Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen, die seit langem diskutierten Anfragen an das Lehramt aufgeworfen   und verschiedene Lösungsansätze zur Diskussion gestellt. Die Offenheit, mit der er da gesprochen hat, mag für manche Kardinäle durchaus provokant gewesen sein, wenn man bedenkt, wie sehr in den letzten beiden Pontifikaten jede von der offiziellen Lehre abweichende Diskussion unerwünscht war. Wenn man daran denkt, wie Moraltheologen oder auch Diözesen, die neue Wege in der Pastoral für wiederverheiratete Geschiedene gehen wollten, noch bis vor kurzem gemaßregelt wurden, dann war das Referat von Kasper für manche schon ein starker Tobak.

Es fällt auf, dass sich Kasper – trotz der Knappheit des Referates – sehr bemüht hat, eine Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre und Praxis nicht als Bruch darzustellen. Wie sehen Sie das?
Lintner: Wenn Kasper sagt, die kirchliche Lehre ist keine stehende Lagune, sondern ein Fluss – mit dem Bemühen, neue Lebenssituationen und Herausforderungen im Licht des Evangeliums zu deuten, dann macht er das in Bezug auf Ehe und Wiederverheiratete u. a. am Beispiel der frühen Kirche deutlich. Schon zwischen Matthäus und Paulus finden sich – bei aller Treue zum Jesuswort über die Unauflöslichkeit der Ehe – unterschiedliche Deutungen auf das konkrete Leben hin, ebenso bei den Kirchenvätern.

Da verweist Kasper auf eine Studie von Professor Ratzinger (1972), wo schon Origines und andere es als „vernünftig“ angesehen haben, geschiedenen Wiederverheirateten zwar nicht eine zweite sakramentale Ehe, aber nach einer gewissen Bußzeit den Zugang zur Eucharistie zu ermöglichen. Es gebe für Wiederverheiratete zwar kein „zweites Schiff“, aber sehr wohl eine „rettende Planke des Heils“ in Form der Sakramente – eine Praxis der frühen Kirche, die selbst der strenge Augustinus akzeptiert hat und die bis heute in den meisten Ostkirchen gilt – und die, so Kasper, von der katholischen Kirche nie verurteilt worden ist. Und er fragt, warum soll heute grundsätzlich nicht möglich sein, was damals möglich war?

Wie interpretieren sie Kaspers Hinweis auf das Konzil, wo es in mehreren Fragen, etwa bei der Ökumene oder der Religionsfreiheit, eine Art Patt-Stellung gegeben hat, und dann doch gemeinsame Lösungen gefunden werden konnten?
Lintner: Hier versucht er etwas aufzubrechen, was ja auch beim Konzil bei manchen Themen ein großes Problem war: Wie können wir eine neue Position einnehmen, ohne zu sagen, aber was die Kirche bisher gesagt hat, war ein Irrtum? Und da betont Kasper: Dieses Entweder-Oder muss ja nicht sein. Man kann sowohl an der Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe festhalten, etwa indem man Geschiedenen keine zweite sakramentale Eheschließung ermöglicht, als auch gleichzeitig die bestehende Tradition, was den Sakramentenempfang angeht, auf Grund neuer Umstände und Erkenntnisse weiterentwickeln und zu gut begründeten neuen Lösungen kommen. Indem Kasper diesen vom Konzil praktizierten Weg anspricht, will er offensichtlich gewissen Ängsten entgegentreten, man würde gleich die Lehrtradition über Bord werfen.

Was im Zusammenhang mit den Argumenten für  „neue Lösungen“ auch auffällt, ist die deutliche Mahnung an die Kardinäle, das ernst zu nehmen, was die Gläubigen sagen ...
Lintner: Ich denke, da hat Kasper auch die Synodenbefragung im Sinn. Wenn 90 und mehr Prozent der an diesen Themen interessierten Gläubigen sagen, dass sie Änderungen im Umgang mit Wiederverheirateten wollen, dann kann man das nicht einfach mit ihrer mangelhaften Kenntnis der Ehetheologie abtun. Das mag schon teilweise stimmen – und ist dann erst recht eine Anfrage an die Kirche, warum das so ist. Andererseits aber ist es Kasper sehr ernst damit, dass man nach Jahrhunderten einer ausschließlich von zölibatären Männern geprägten Ehe- und Sexualmoral endlich auf die Erfahrungen der Gläubigen hört, wie sie konkret ihre Ehe im Licht des Glaubens deuten und leben. Sonst wird die Kluft zwischen Lehre und Praxis noch tiefer, wie das Beispiel von „Humane vitae“ zeigt. Papst Paul VI. hat damals zur Vorbereitung seiner Enzyklika ganz bewusst Eheleute in die von ihm eingesetzte Kommission berufen und sich dann aber nicht an das Mehrheitsvotum, das auch von allen Paaren mitgetragen wurde, gehalten – mit all den Folgen.

Kann man sagen, welche Lösung Kasper vorschwebt?
Lintner: Seine Aufgabe war es nicht, Lösungen vorzuschlagen, sondern anstehende Fragen und diskutierte Lösungsvarianten aufzuzeigen. Es wird aber schon auch eine gewisse Präferenz erkennbar für jenen Weg, den er schon als Bischof vorgeschlagen hat. Zunächst unterstreicht er deutlich, dass es keine Lösung am Jesuswort vorbei geben kann. Gleichzeitig aber habe die Kirche mit dem Jesuswort so umzugehen, dass es den Menschen auch gerecht wird – und nicht wie ein Panzer über sie hinwegfährt, denn die „Hartherzigkeit“, von der Jesus spricht, träfe dann auch die Kirche. Beide Aspekte im Blick meint er dann: Es könne nicht um eine allgemeine Regelung gehen, wonach wiederverheirateten Geschiedenen Beichte und Kommunion generell offenstehen, so als wäre nichts geschehen. Es sollte aber sehr wohl die Möglichkeit geben, im Einzelfall zu prüfen, ob jemand wirklich das innere Verlangen hat, die Sakramente zu empfangen, und ob er/sie bereit ist, das eigene Scheitern in Buße, Reue, Versöhnungsbereitschaft und Wiedergutmachung, soweit es geht, aufzuarbeiten.

Kasper selbst ist da relativ rigoros und meint, dass vermutlich nur eine kleine Minderheit diesen Weg gehen wird. Aber er ist für das Öffnen dieser Schneise und weist dabei ausdrücklich auf die aristotelische Tugend der Epikie hin, die es Menschen in schwierigen Lebenslagen erlaubt, sich ethisch gut zu verhalten, auch wenn sie übergeordnete Normen nicht einhalten können. Interessant ist auch noch das Argument, dass Kasper sagt, ein genereller Ausschluss der Eltern von den Sakramenten könnte es auch Kindern erschweren, in die Glaubensgemeinschaft hineinzuwachsen.

Nach diesem „Auftakt“: Was erhoffen Sie sich von den Bischofssynoden zur Familie?
Lintner: Ich denke, dass es nach den bisherigen Zeichen „von oben“ eine sehr offene Aussprache der Bischöfe geben wird. Schon bei der letzten Synode zur Familie im Jahr 1980 hat es einen Beschluss der Bischöfe mit 179 Ja- und bloß 20 Nein-Stimmen gegeben, wo es heißt: Die Synode wünscht in ihrer pastoralen Sorge um diese Gläubigen (wiederverheiratete Geschiedene), dass man sich in dieser Sache einer neuen und tieferen Untersuchung widme. Dabei möge man der Praxis der Kirchen des Ostens Rechnung tragen, um so besser die pastorale Barmherzigkeit herauszustellen (Propositiones 14.6). Papst Johannes Paul II. hat diesen Wunsch in seiner Enzyklika „Familiaris consortio“ (1981) nicht aufgegriffen. Ich denke, Franziskus wird mit so einem Wunsch anders umgehen. 

Das Evangelium von der Familie

Kardinal Walter Kasper hat seinen Vortrag vor dem Kardinalskollegium bewusst nicht mit „Die Lehre der Kirche von der Familie“ überschrieben, sondern mit dem Titel „Das Evangelium von der Familie“. „Damit gehen wir zurück zur Quelle, aus der die Lehre entsprungen ist.“
In fünf Abschnitten behandelt Kasper die Themen „Die Familie in der Schöpfungsordnung“, „Strukturen der Sünde im Leben der Familie“, „Die Familie in der christlichen Erlösungsordnung“, „Die Familie als Hauskirche“ und „Zum Problem der wiederverheirateten Geschiedenen.“

Den Vortrag sowie zwei erläuternde Exkurse und eine Stellungnahme zur Diskussion der Kardinäle hat der Verlag Herder veröffentlicht.

Walter Kardinal Kasper,
Das Evangelium von der Familie.
Herder, 94 Seiten, 12,40 €