Vier Jahre lang hat Pater Markus Inama SJ in der bulgarischen Hauptstadt Sofia ein Sozialzentrum für obdachlose Kinder und Jugendliche aufgebaut. In einem Buch und in unserer neuen Serie reflektiert er diese Zeit aus der Sicht des Glaubens:

Glaubenserfahrungen bei den Straßenkindern

Teil 1 von 3

P. Markus Inama SJP. Markus Inama SJ
ist Rektor des Jesuitenkollegs
in Innsbruck und
Vorstandsmitglied der
CONCORDIA–Sozialprojekte

Während meiner theologischen Studentenzeit gehörten die biblischen Vorlesungen zu meinen Lieblingsfächern. Wenn ich dann in meiner Zeit im Sozialzentrum für Kinder und Jugendliche in Bulgarien mit den Kindern über biblische Geschichten sprach, versuchte ich, sie aus ihrer Perspektive zu lesen. Das war erfrischend und manchmal so unmittelbar, dass ich erschrak.
Ich lernte einige Menschen kennen, die vor der Stadt leben mussten, weil sie angeblich von einem Dämon besessen waren (siehe Markus 5,1f.). Nur war bei den meisten die Ablehnung, die sie von klein auf erfahren hatten, die Ursache für ihr seltsames Verhalten. Sie konnten nicht reden oder redeten mit sich selbst. Sie schrien, wenn sie sich bedroht fühlten. Viele von ihnen waren bei uns ruhiger geworden. Ein Dach über dem Kopf, ein Bett, eine Gemeinschaft, in der sie sich angenommen fühlten, hatten gereicht, damit sie „geheilt“ wurden.

Der blinde Bettler
Die Bibelstelle vom blinden Bettler (Mk 10, 46f.) war mir besonders ans Herz gewachsen. Ich verband mit dem Blinden eine konkrete Person: Ein blinder Mann saß regelmäßig bei der Bushaltestelle in der Nähe der Löwenbrücke – dort, wo der Bus Nummer 85 hielt, der direkt zu unserem Sozialzentrum fuhr. Für mich war dieser Ort wie eine Nahtstelle zwischen der Innenstadt und meinem Arbeitsplatz. Der blinde Mann bei der Haltestelle trug keine Brille. Auf seinen Augen war eine Art weißer Film zu sehen. Der Blick in seinen Augen prägte sich mir ein. Ab und zu warf ich eine Münze in seinen Becher. Manchmal verband ich dies innerlich mit der Bitte, die der Blinde im Evangelium an Jesus richtet: „Hab Erbarmen mit mir!“
Im Evangelium wurde der Blinde von Jesus geheilt. Ich überlegte, wer oder was mir in den letzten Monaten und Jahren die Augen geöffnet hatte. Bei mir waren es keine punktuellen Erlebnisse, sondern eher ein Prozess, der mich Dinge sehen ließ, die ich früher nicht oder anders gesehen hatte. Während der vier Jahre in Bulgarien waren mir vor allem die Kinder ans Herz gewachsen, die in Armenvierteln aufgewachsen waren.

Träume
In einem Gottesdienst fragte ich die Kinder einmal nach ihren Träumen. Im Grunde gab es keinen Unterschied zu dem, was sich Jugendliche in Mitteleuropa vom Leben erwarteten: eine große Familie, Wohlstand, Gesundheit und ein langes Leben. Die Realität der Kinder in den Elendsvierteln von Sofia war aber eine ganz andere. Ein Bekannter, der bei der Weltbank in Sofia arbeitete, erzählte mir einmal nebenbei, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den bulgarischen Armenvierteln 48 Jahre beträgt. Die kurze Bemerkung ging mir nahe. Ich war damals gerade 48. Wenn ich unter denselben Bedingungen hätte leben müssen wie die Kinder, dann wäre mein Leben – statistisch gesehen – schon zu Ende.
Der blinde Mann im Evangelium wurde geheilt und folgte Jesus auf seinem Weg. Ich stellte mir die Frage, was es für mich bedeutete, Jesus heute zu folgen. Die Jesuiten hatten in den Siebzigerjahren versucht, das Leitbild des Ordens auf die heutige Zeit abzustimmen. Dort heißt es zum Beispiel, dass „zum Dienst am Glauben der Einsatz für die Gerechtigkeit notwendig dazugehört“. Die Kinder lagen mir am Herzen. Ich hatte ihnen viel zu verdanken und ich wollte mich dafür einsetzen, dass sie eine Chance bekamen, ihre Träume zu verwirklichen.

Pater Markus Inama SJ

Der Vorarlberger trat 1987 in den Jesuitenorden ein und arbeitete zunächst in der Jugendarbeit, bevor er 2008 für vier Jahre für die Stiftung „Concordia–Sozialprojekte“ nach Bulgarien ging, um das Sozialzentrum „Sveti Konstantin“ für obdachlose Kinder und Jugendliche aufzubauen. Heute ist er Rektor des Jesuitenkollegs Innsbruck.

Cover: InamaSeine Erfahrungen in Bulgarien hat er in dem Buch gesammelt:

Inama: „Der Hoffnung ein Zuhause geben.
Die vergessenen Kinder von Sofia“
(Styria)

 

(aus dem KirchenBlatt Nr. 45 vom 9. November 2017)