Vom schönen Wagnis, jemandem zu vertrauen. 1. Teil der Fastenserie mit Melanie Wolfers

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Jeder Mensch will mutig sein! Ja, Mut übt eine universale Anziehungskraft aus. Und jeder hat eine Ahnung von dem Glück, das darin liegt, beherzt zu leben. Aber oft hält Angst einen davon ab, das eigene Leben mit beiden Händen zu ergreifen. Etwa: Da sagt jemand Ja, obwohl er Nein meint. Da scheut jemand vor einer Entscheidung zurück, aus Angst, etwas falsch zu machen. Oder man fühlt sich mies und elend – und bleibt doch lieber im vertrauten Unglück hocken, als Neues zu wagen. Zugleich haben es viele satt, immer nur vorsichtig, quasi unter Vorbehalt zu leben. Sie wollen mutig leben. Aus vollem und ganzem Herzen.
 
Unter Mut wird häufig verstanden, sich in außergewöhnlichen Situationen heldenhaft zu verhalten. Doch sein eigentliches Revier ist der konkrete Alltag! Egal, ob Sie eine Entscheidung treffen, ob Sie jemandem Ihre Liebe eingestehen oder in einer Konferenz eine unkonventionelle Idee präsentieren – in all diesen Situationen sind Sie mutig. Denn ob Ihre Entscheidung sich als richtig erweist oder eine ganz andere Wendung nimmt, ob Ihre Liebe erwidert wird oder im Leeren verhallt, ob Ihre Idee vom Team aufgegriffen oder belächelt wird – all das entzieht sich Ihrer Kontrolle und ist ein Geschehen mit offenem Ausgang. Daher braucht es in diesen Augenblicken Mut.

Mutigsein bedeutet: Wir bringen uns selbst ins Spiel. Wir machen uns emotional berührbar und lassen uns auf etwas ein, dessen Ausgang ungewiss ist. Und damit gehen wir zugleich das Risiko ein, enttäuscht oder verletzt zu werden. Denn in dem Maß, in dem wir uns ins Leben hineinwerfen, riskieren wir, dass wir uns Schrammen und blaue Flecken holen – das beginnt bereits beim Laufenlernen. Und dieser Mut ist es, der die Tür zum Leben öffnet!

Die Kraft der Verletzlichkeit


Doch mit der Verletzbarkeit ist das so eine Sache! Viele halten Verletzlichkeit für eine peinliche Schwäche und denken: „Wer sich genügend anstrengt und auch nur ein bisschen Mumm in den Knochen hat, überwindet sie!“ Schwach zu sein, ist einfach nicht angesagt!
Aber die Annahme, dass Verletzbarkeit eine vermeidbare Schwäche sei, ist in zweifacher Hinsicht falsch. Erstens lässt sich Verwundbarkeit nicht abschalten wie ein lästiges Störgeräusch. Sie gehört einfach zu uns. Erst wer sie als Teil seines Lebens anerkennt, wird mit verunsichernden und schmerzhaften Erfahrungen besser umgehen können.

Zweitens – und darin liegt für mich eine der überraschendsten Einsichten in meiner Auseinandersetzung mit dem Thema „Mut“: Unserer Verletzlichkeit wohnt eine humane Kraft inne. Sie steht am Ursprung unserer vitalsten Erfahrungen! Es ist nämlich dieselbe weiche Seite am Menschen, der nicht nur Trauer und Schmerz entspringen, sondern auch Liebe und Zugehörigkeit, Freude und Solidarität. Denn ganz gleich, ob wir jemanden über alles lieben, wir uns zu uns selbst bekennen oder für eine Sache leidenschaftlich kämpfen – in all diesen Situationen machen wir uns berührbar. Und damit auch verwundbar.

Vertrauen fällt nicht vom Himmel! Es ist und bleibt ein Wagnis, einander zu vertrauen: Einerseits brauchen wir Sicherheit in unseren Beziehungen, um uns öffnen zu können. Andererseits aber wächst die Gewissheit „Ich kann auf dich bauen“ allein in dem Maß, als wir das Risiko eingehen, jemandem Vertrauen zu schenken.
Vertrauen ist wie das Gehen über eine Brücke, die gerade erst – und zwar Schritt für Schritt – gebaut wird. Wir müssen den jeweils nächsten Schritt wagen und damit das Risiko eingehen, möglicherweise auf die Nase zu fallen.

Wenn wir erleben, dass sich der mutige Vertrauensvorschuss bewährt, so kann das Vertrauen weiter wachsen. Vertrauen verdankt sich einem mutigen Brückenschlag. Und Nähe ist das Ergebnis von riskierter Verletzlichkeit!

Das gilt für jede Beziehung – ob in Beruf, Nachbarschaft oder Verein, ob in Freundschaft oder Liebe. Je mehr uns jemand bedeutet, umso näher lassen wir ihn oder sie an uns heran. Umso berührbarer sind wir. Und umso sensibler und verwundbarer.
Großartig drückt dies C. S. Lewis aus: „Lieben heißt, verletzlich zu sein. Liebe irgendetwas, und dein Herz wird mit Sicherheit durch einen Schleudergang gehen und vielleicht gebrochen. Wenn du sicherstellen willst, dass ihm nichts passiert, darfst du es niemandem schenken, nicht einmal einem Tier. Verpack es sorgfältig in Hobbys und ein wenig Luxus, meide jede Verwicklung. Verwahre es sicher in der Schatulle oder dem Sarg deiner Selbstsucht. Aber in dieser Schatulle, sicher, dunkel, unbeweglich, ohne Luft, wird es sich verändern. Es wird nicht gebrochen werden, es wird unzerbrechlich, undurchlässig, hoffnungslos. Lieben heißt, verletzlich zu sein.“
Freundschaft und Liebe sind nichts für Feiglinge! Vertrauen und Liebe schenken ist bisweilen ganz schön schwierig. Aber es ist eben auch schön schwierig, denn darin gewinnt das Leben eine neue Schönheit und Stimmigkeit.

Impuls

Vertrauen braucht Mut – insbesondere dann, wenn wir in Beziehungen verwundet worden sind. Haben wir uns im Schneckenhaus unserer Angst verbarrikadiert, dann brauchen wir befreiende, heilende, (er)lösende Erfahrungen.


Passwort

jeder mensch
ein verwunschener turm
von sich selber hinter schloss
und riegeln gebracht
bewegungsmelder lösen
alarm aus
komm mir nicht zu nah
unübersehbar das warnschild
vorsichtig bissiger mensch
keine brechstange
kein raffinierter dietrich
nur ein schlüsselwort
sesam öffne dich
zärtlich gesprochen
DU
vielleicht entriegele ich
die sperrkette der angst
und aus dem spaltbreit
ein leises willkommen

Aus: Andreas Knapp: Gedichte auf Leben und Tod. Echter Verlag, 4. Auflage 2016, S. 39.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 10 vom 7. März 2019)