Wir wissen heute viel besser als Franziskus damals, wie „unsicher“ die Erde mit den sich verschiebenden Kontinentalplatten werden kann. Und dennoch bauen wir jeden Tag darauf, dass sie uns trägt – und wir riskieren Tag für Tag ihr Vermögen, uns zu ertragen. Beides bedeutet die Frage, ob wir Gott ernst nehmen.

Serie: Teil 5 von 7 - Der Sonnengesang - gelobt durch Mutter Erde

Bild rechts: Der Wald mit seinem weichen und doch festen Boden ist ein besonderer Ort, um dem nachzuspüren, wie „Mutter“ Erde uns trägt. Er kann uns aber auch sehr unmittelbar an die „Brüche“ der Natur und an die Wunden, die wir ihr schlagen, mahnen.

Sonnengesang des hl. Franz

P. Johannes Schneidervon P. Dr. Johannes Schneider
Fachmann für franziskanische Spiritualität

Auf meinem Weg durch den lichten Wald zur Kirche am Hilariberg, in der Nähe von Kramsach (Tirol), erhält die siebte Strophe des Sonnengesangs einen besonderen Klang:

Gelobt seist du, mein Herr,
durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt
und bunte Blumen und Kräuter.

Auch der Waldboden bringt vielfältige Früchte hervor, verschiedene Arten von Beeren oder Pilzen, alle möglichen Gräser und Heilkräuter – falls man sie kennt –, und Blumen, aber nicht so viele. Was mich im Wald besonders berührt, ist der weiche und feste Boden. Wohltuend ist es, auf ihm barfuß zu gehen. Manchmal zittert der Boden etwas, doch er trägt.

Mutter Erde, die uns aushält und erträgt
„Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde“, dichtete der hl. Franziskus, als er bei San Damiano krank darniederlag. Er lag zwar nicht mehr wie früher auf nackter Erde, sondern auf einer Strohmatte: „Mutter Erde, die uns erhält – sustenta“, klingt das Wort in seiner Muttersprache. Das vom Lateinischen „sustineo“ abgeleitete „sustento“ heißt: tragen, nicht sinken lassen, ertragen, aushalten. In einem Mahnwort „Über das Mitleid mit dem Nächsten“ gebraucht Franziskus denselben Ausdruck: „Selig der Mensch, der seinen Nächsten in seiner Gebrechlichkeit genauso erträgt (sustinet), wie er von diesem ertragen werden möchte, wenn er in ganz ähnlicher Lage wäre.“ Mitleiden erweist sich im Ertragen und Tragen, Aushalten und Stützen der Zerbrechlichkeit (fragilitas) des Nächsten. „Wie eine Mutter ihren leiblichen Sohn nährt und liebt“, noch viel mehr soll „einer seinen Bruder lieben und nähren“, wenn er in Not ist, verlangt Franziskus in der Regel. Im Tragen und Ertragen des Nächsten in seiner Bedürftigkeit sieht Franziskus den mütterlichen Zug mitleidender
Liebe. Als einzigem Geschöpf verleiht er Schwester Erde den Titel „Mutter“. Die Erde trägt und erträgt uns, sie hält (unter) uns aus. Der weiche Waldboden trägt meine Füße von unten her. Ist das so selbstverständlich?

Erdbeben und Katastrophen
Am Weihnachtstag 1222 gab es in ganz Oberitalien ein heftiges Erdbeben, bei dem ein Bruder in Brescia wie durch ein Wunder unverletzt aus der völlig eingestürzten Kirche herauskam und bezeugte: „Es war jenes Erdbeben, das der heilige Franziskus vorausgesagt hatte.“
Damals trug Mutter Erde nicht, sondern begrub viele unter sich. Wäre es ein Wunder, wenn Mutter Erde das Ertragenkönnen ihrer Kinder verlöre?
Auch dem Bruder Wind mit jeglichem Wetter schreibt Franziskus Ernähren und Ertragen zu: „jegliches Wetter, durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst – dai sustentamento“. Aber auch das Wetter scheint es nicht mehr auszuhalten und das Klima wandelt sein Gesicht. Schlagen Bruder Wind, Schwester Wasser und Mutter Erde nun zurück, weil sie uns nicht mehr tragen können?

Bitte um Wiedergutmachung
Auf der Erde liegend und ihr ausgeliefert lobt Franziskus den Schöpfer „für unsere Schwester, Mutter Erde“ mit der ganzen Schöpfung, „die bis heute mitseufzt und mit in Wehen liegt“ (Röm 8,22). Er wird noch eine Friedensstrophe dichten zur Versöhnung der Menschen. Auch die Erdenstrophe ist eine Friedensstrophe. Sie bittet mit Dank den „allmächtigen, guten Herrn“, der allein mächtig ist, alles wieder gut zu machen, um Wiedergutmachung der durch Sünde zerstörten Schöpfung. Wie Franziskus Bruder Feuer bat, ihm gut zu sein und nicht weh zu tun, so bittet er Mutter Erde, sie möge uns weiter ertragen und ernähren.

Sonnengesang und angeführte Zeugnisse: Franziskus-Quellen, Kevelaer 2009, S. 40f., 52, 98, 140.