Aus der Reihe "Welt der Religionen" von Aglaia Poscher-Mika

Wir alle kennen die Erzählung eines gläubigen Menschen, der einen Tag lang auf Jesus wartet. Er macht sich innerlich bereit, um seinen Erlöser zu empfangen, er betet und fastet. Mehrmals klopft es an der Tür, der Mensch freut sich über den Besuch seines Herrn. Doch als er die Tür öffnet, findet er: einen Bettler, eine Nachbarin, die etwas Mehl ausleihen möchte, eine entfernte Verwandte, die sich einsam fühlt. Der Mensch schickt sie alle fort - schließlich habe er keine Zeit, er erwarte nämlich hohen Besuch! Doch Jesus selbst erscheint ihm nicht. Am Ende des Tages betet er voller Enttäuschung: „Mein Herr, ich habe den ganzen Tag lang auf dich gewartet - warum hast du mich nicht besucht?“ Jesus entgegnet: „Mein geliebter Sohn, wie gerne hätte ich heute ein paar Stunden mit dir verbracht. Ich habe mehrmals an deiner Tür geklopft, doch du hast mich nicht erkannt.“

Auch das Alevitentum, eine Form des Islam, kennt eine solche Geschichte: Zwei Eltern fasten für die ­Genesung ihrer erkrankten Kinder. Jeden Abend, als sie ihr Fasten brechen wollen, erscheint jemand an ihrer Haustür, welcher das wenige Brot, das sie haben, noch dringender benötigt: ein Waisenkind, ein Sklave und ein Bettler. Nach drei Tagen ununterbrochenen Fastens erscheint ihnen der heilige Hizir, und gibt sich endlich selbst zu erkennen: er habe die Gestalt der Ärmsten angenommen, um ihre Geduld und Freigiebigkeit zu testen. Nun sei er von ihrem festen Glauben überzeugt - und ihre Kinder sind geheilt.

Die Moral der Erzählung ist klar: Wir können nie genau wissen, wen wir vor uns haben. Auch in kleinen, scheinbar lästigen Begegnungen mag es sich lohnen, freundlich und aufrichtig zu sein.
Warum diese Fastenzeit, welche sich aus der Legende der fastenden Eltern ableitet und von den Aleviten von 12. bis 14. Februar begangen wird, wohl im Spätwinter stattfindet?

Der heilige Hizir habe außerdem die Fähigkeit, die Erde, welche er betritt, zum Blühen zu bringen. Was wünschen sich die Menschen nach einem langen Winter mehr, als dass die Natur wieder grünt und blüht?
Auch der Karneval, welcher die Menschen andere ­Gestalten anzunehmen einlädt, ist ein klares Wort an den Winter: „Genug der Dunkelheit und Kälte! Wir sind bereit für den Frühling in all seiner Fülle und ­Lebendigkeit.“ «

Aglaia Mika, SopranAglaia Poscher-Mika, MMA
Beauftragte der KatholischenKirche Vorarlberg
für den Interreligiösen Dialog;
Musiktherapeutin, Sängerin, Stimmbildnerin.

(aus dem KirchenBlatt Nr. 6 vom 7. Februar 2019)