Sie waren sich noch nie begegnet, was kaum erstaunlich war. Sie tingelte durch Krankenhäuser, Arztpraxen und Wartezimmer, er hingegen zog unter freiem Himmel seine Wege.

Serie "Paare der Bibel" - bekannte Geschichten neu erzählt.
Teil 5: Jesus und die blutflüssige Frau

Georg Magirius

 

von Georg Magirius
Evangelischer Theologe und Autor

Sie war Patientin, Expertin dafür, wie Ärzte diagnostizierten, therapierten, die Achseln zuckten und am Ende abkassierten. Die Frau litt schon seit zwölf Jahren an Blutungen und hatte viel erlitten von vielen Ärzten und all ihr Gut dafür aufgewandt; und es hatte ihr nichts geholfen, sondern es war noch schlimmer mit ihr geworden. (Mk 5,25.26)

Tiefpunkt
So gut wie pleite war sie. Verloren gegangen war auch die ihr von den Ärzten gemachte Hoffnung, die stets eine Therapie lang aufblühte, um dann wieder zu verdorren. Wieder einmal saß die Frau im Wartezimmer. Und der Geldbeutel sagte ihr: Es ist das letzte Mal. Müde blätterte sie in einer der abgegriffenen Illustrierten, die den Tisch des Wartezimmers bedeckten. Und sie las: „Er ist ein Dompteur der wildesten Krankheiten, ein Vagabund, der heilt und dafür nicht einmal Geld verlangt. Und sein Name lautet Jesus.“

Kraft der Sehnsucht
Da stand die Frau im Wartezimmer auf und gab ihrer Warterei einen Tritt für immer. Eine letzte, verrückte Sehnsucht hatte sie ergriffen. Im Geist malte sie sich ein Bild aus, das ihre Enttäuschung verlachen würde. Und sie brach auf, um ihre Sehnsucht zu finden. Endlich erreichte sie den Vagabunden, konnte ihn jedoch nicht sehen. Denn da war ein Pulk von Fans, der ihn umringte, wie bei einem Sportstar, der gerade den Ball zum entscheidenden Tor versenkt hat. Die Anhänger skandierten: Jesus! Jesus! Sie hatten sich vor ihm aufgestellt und gingen miteinander rückwärts, um Jesus stets vor Augen zu haben. Sie zerrten an ihm, wollten sein Trikot, seine Schuhe. Als das die Kranke sah, war sie augenblicklich wieder da: ihre Müdigkeit. Nie würde sie sich durch diesen Pulk drängen können! Aber seltsam: Ihre Sehnsucht ließ sich nicht mehr zügeln. Kraftlos war die Frau – und hoffte trotzdem auf die Kraft dieses Arztes von unbekannter Würde: Sie kam in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich nur seine Kleider berühren könnte, so würde ich gesund. (Mk 5,27.28)

Berührt
Aber Jesus, auf den die Kranke hoffte, war selbst erschöpft, gehetzt und atemlos. Natürlich war es seine Mission, sich um andere zu kümmern. Er ließ beeindruckende Kräfte spielen, begeisterte, konnte wunderbar erzählen, er war eben ein großer Künstler. Aber seine Anhänger raubten ihm alle Kraft, wollten selbst gar nichts wagen, sondern immer nur konsumieren. Das Einzige, wozu sie offenbar in der Lage waren: ihn bedrängen. Sie pressten seine Kreativität aus ihm bis auf den letzten Tropfen. Jesus schwitzte in der Menge. Die Bodyguards, seine Jünger, konnten ihn schon nicht mehr schützen. Und dann, inmitten des Zerrens und Grapschens, jene zarte, zaghafte Berührung. Und Jesus spürte sogleich an sich selbst, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war. Er wandte sich um in der Mengeund sprach: Wer hat meine Kleider berührt? Die Jünger lachten und schüttelten den Kopf: Du siehst, dass dich die Menge umdrängt, und fragst: Wer hat mich berührt?

Geheilt
Jesus aber sah sich um nach der, die das getan hatte. Die Frau aber fürchtete sich und zitterte, denn sie wusste, was an ihr geschehen war; sie kam und fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. (Mk 5,30–33) Was aber war die Wahrheit, die sie erzittern ließ? Sie lautete: Ihre Sehnsucht, ein Leben lang qualvoll erhofft, war Wirklichkeit geworden. Aber nicht nur sie, auch er war geheilt, genesen an einer einzigen Berührung.