Seit 15 Jahren lebt der aus Thüringen stammende Jesuit P. Dr. Toni Witwer in Rom. Er unterrichtet dort spirituelle Theologie und arbeitet in der Generalleitung des Jesuitenordens. Als Generalpostulator ist er für alle Heilig- und Seligsprechungsverfahren zuständig, die Jesuitenpatres betreffen. Bei einem Besuch in Vorarlberg sprach er mit dem KirchenBlatt über den Papst, den Rücktritt Benedikts XVI. und hilfreiche Kriterien für einen Nachfolger.

Dietmar Steinmair

Der Blick von P. Toni Witwer SJ auf die Kirche ist spirituell geprägt. Viele Jahre war er als Spiritual für die religiöse Betreuung und Bildung von Priesteramtskandidaten und Ordensleuten verantwortlich. Seit er in Rom ist, unterrichtet er spirituelle Theologie an der Gregoriana, einer der bedeutendsten Päpstlichen Universitäten der Welt. Seine Antworten sind mitunter die eines Lehrers, bleiben nie an der Oberfläche, führen das Gespräch gerne in die Tiefe.

P. Toni Wittwer SJ

P. Dr. Toni Witwer SJ
Geboren 1948 in Thüringen, Besuch des Gymnasiums in Bludenz.
Von 1968 bis 1975 Theologiestudium in Innsbruck.
1975 Priesterweihe in Dornbirn gemeinsam mit seinem Bruder Werner.
1976 Eintritt in den Jesuitenorden und Doktoratsstudium in Rom im Fach „Spirituelle Theologie“.  Danach Tätigkeit als Spiritual in Priesterseminaren in Innsbruck, Wien und Graz.  Ab 1998 Regionalsekretär für den zentraleuropäischen Bereich des Jesuitenordens in Rom sowie Dozent am Institut für Spirituelle Theologie der Gregoriana.
Seit 2008 Generalpostulator des Jesuitenordens.

P. Witwer liefert keine Schlagzeilen, unzulässige Vereinfachungen sind nicht seine Sache. Krude Journalistenfragen nach Favoriten für das Konklave, nach Lagern unter den Kardinälen und sogar nach seinem persönlichen Favoriten laufen ins Leere. Seine Innensicht auf die Kirche steht in Kontrast zur Welt von Twitter-Kurznachrichten, Insider-Spekulationen und der Suche nach Skandalen. Das ist seit zehn Tagen eher ungewöhnlich, sowohl am Stammtisch als auch im Blätterwald.

Kirche versus Papst
Warum gibt es einen so großen Unterschied zwischen der öffentlichen Wahrnehmung von „Kirche“, die allenthalben in die Krise geredet wird, und dem Papst als Superstar, der die Herzen der Menschen berührt und am Tag nach seiner Rücktrittsankündigung die Titelblätter fast aller Tageszeitungen der Welt füllt? Für P. Witwer ist das nicht so eindeutig zu beantworten. Er vergleicht die Kirche mit einer Familie. Je nachdem, wie sich ein Mitglied seiner Gemeinschaft gegenüber verhalte, wachse oder schwinde das Gefühl der Beheimatung. Trotz zunehmender Kirchenferne, so konstatiert P. Witwer, gehe das Interesse an religiösen Fragen oder nach dem Sinn im Leben nicht zurück: „Und was liegt näher, als religiöse Fragen im Zusammenhang mit der Kirche zu stellen?“

Wer ist Kirche?
Die Heimaterfahrung, auch in der Kirche, bleibe aber eine Herausforderung. „Es ist wie in einer Beziehung: In dem Maße, in dem ich mich auf eine Beziehung einlasse und auch zurücknehme, kann ich die Beziehung als eine Bereicherung erleben.“ Die Schwierigkeit, die viele Menschen mit der Kirche haben, komme daher, dass sie bei aller Kritik die Kirche gleichzeitig überhöhen und von ihr Vollkommenheit erwarten. Die Kirche sei aber eben auch eine menschliche Institution mit menschlichen Mängeln. Es helfe nichts, die Fehler immer nur bei den Anderen zu suchen. P. Witwer fragt noch deutlicher: „Wer ist denn die Kirche? Ich gehöre zur  Kirche. Die Kirche hat Mängel, weil ich Mängel habe. Ich bin Teil dieser Kirche und die Kirche ist immer nur so gut wie ihre Mitglieder. Und die Mitglieder der Kirche sind alle Getauften, nicht nur die Priester, die Bischöfe oder der Papst.“
Natürlich hätten die Bischöfe und der Papst mehr Möglichkeiten, das Gesamte positiv oder negativ zu beeinflussen. Damit hätten sie aber auch mehr Verantwortung. „Menschen, die der Kirche vielleicht nicht so nahe stehen, spüren intuitiv, dass das, was der Papst macht, von großer Bedeutung ist“, so Witwer.

Die Vorteile des Rücktritts
Ob das Papstamt durch den Rücktritt Benedikts XVI. etwas von seiner Faszination oder gar Sakralität verloren habe? Nein, nicht unbedingt, sagt P. Witwer. „Eigentlich hat der Rücktritt ganz klar Vorteile. Der Papst ist in der Kirche der Stellvertreter Christi auf Erden. Gefühlsmäßig ist das Papstamt für viele Menschen überhöht. Aber das darf uns nicht vergessen lassen, dass jeder Getaufte Jesus Christus hier auf Erden abzubilden, sozusagen ein Werkzeug in der Hand Gottes zu sein und den Willen Gottes zu erfüllen hat. Der Papst macht gerade durch seinen Rücktritt noch einmal deutlicher, was die Berufung von allen ist. Selbst nach seinem Rücktritt bleibt er ein Stellvertreter Christi auf Erden - so wie jeder andere.“ Diese Berufung bleibe bis zum Lebensende erhalten, auch wenn nun ein anderer in das Papstamt eintrete.
Selbst bei allen menschlichen Mängeln hat P. Witwer keine Angst um die Zukunft der Kirche: „Dass die Kirche weiter Bestand haben wird, hängt nicht von der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit von Menschen ab, sondern, weil Gott hinter der Kirche steht.“

Der geeignete Kandidat
Nun sei die Frage zu stellen, wer in der konkreten jetzigen Situation am besten geeignet für das Papstamt sei. „Das ist aber nicht wie bei einer demokratischen Wahl, denn die Papstwahl ist letztlich ein geistlicher Prozess der Unterscheidung, und die Wahlberechtigten müssen sich fragen: Was ist der Wille Gottes? Wen möchte Gott in dieser Aufgabe?“
Wieder lässt der Jesuit erkennen, dass kirchenpolitische Maßstäbe allein keine hilfreichen Kriterien für eine Papstwahl wären. Das heißt aber nicht, dass es keine weiteren Kriterien für einen zukünftigen Papst gäbe. P. Witwer erinnert an die Vorschriften bei der Wahl des Jesuiten-Generals. „Er muss bei den Menschen angesehen sein, denn es macht keinen Sinn, jemanden zu wählen, der gleich mit allen in Konflikt kommt“, sagt P. Witwer. „Weitere Fragen sind: Wie kann er verwalten, welche Fähigkeiten zur Unterscheidung und welche intellektuellen Fähigkeiten hat er? Auch sollte er gesund sein. Aber all das, so sagt Ignatius, könne einem Kandidaten auch fehlen, nur zwei Eigenschaften nicht: Die tiefe Verbundenheit zu Jesus Christus. Und - angewendet auf die Papstwahl: Die tiefe Verbundenheit zur Kirche. Nur so ist ein Papst fähig, sein Leben je mehr in den Dienst der Kirche zu stellen und nicht für sich selbst eine Machtposition zu suchen. Gerade das hat Papst Benedikt durch seinen Rücktritt gezeigt: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo jemand anderer die Aufgabe besser machen kann.“

Die Weltkirche im Blick
Ob ein Europäer oder ein Nichteuropäer bei der kommenden Papstwahl zum Zuge kommt, ist für P. Witwer zweitrangig. Es sei wichtig, dass der Papst nicht nur seine eigene Nationalkirche kenne, sondern mit möglichst vielen Teilen der Weltkirche in Berührung steht . Gerade Johannes Paul II. und Benedikt XVI. haben immer wieder einzelne Kardinäle als ihre Gesandten in verschiedensten Angelegenheiten in die ganze Welt geschickt.
Für P. Witwer stirbt eine Kirche, die nicht missionarisch ist, ab. „Das passiert dann, wenn die Kirche selbstbezogen ist und besorgt um den eigenen Einfluss. Benedikt hat das genaue Gegenteil gemacht, in dem er gesagt hat: Wir haben Jesus Christus zu verkünden, von ihm Zeugnis abzulegen und den Menschen das Wort vom Evangelium nahe zu bringen.“

Auf die doch noch unvermeidbare Frage, ob er einen persönlichen Favoriten für das kommende Konklave habe, lächelt P. Witwer: „Solche Überlegungen stelle ich eigentlich gar nicht an. Ich wähle nicht. Aber ich vertraue auf den Heiligen Geist und werde das annehmen, was von Gott kommt und was die Kardinäle in ihrem Unterscheidungsprozess gewählt haben.
Denn letztlich geht‘s um die Frage: Nehme ich die Wirklichkeit an?“