Prof. Dr. Gerhard Wanner (geboren 1939) ist als Historiker mit seinen Studien zu Kirche und Nationalsozialismus in Vorarlberg hervorgetreten. Nun hat er sich mit der katholischen Kunst im 19. Jahrhundert im Land beschäftigt und dazu eine kleine Kunstgeschichte Vorarlbergs vorgelegt, die auch als eine Kirchengeschichte der Diözese Feldkirch gelesen werden könnte. Im KirchenBlatt blickt der Historiker bis in die unmittelbare Gegenwart. Erschienen ist die neue Arbeit in der Schriftenreihe der Rheticusgesellschaft.

Wolfgang Ölz

Außer biografischer Aufarbeitung der Fakten gab es bis dato keine umfassendere Kunstgeschichte Vorarlbergs. Professor Gerhard Wanner hat nun versucht, Kunstgeschichte „integrativ  auch aus wirtschaftlicher, sozialer, psychologischer, politischer und ideologischer Sicht zu deuten und zu verstehen“. Wanner sieht dabei die Kunstgeschichte nicht als ein eurozentristisches „Entweder oder“, sondern als ein vielleicht auch buddhistisch motiviertes „Sowohl als auch“. So kann er davon sprechen, dass sowohl der hegelianische Weltgeist als auch der „Liebe Gott“ einem nazarenischen Künstler wie Gebhard Flatz eingegeben hatten, metaphysische oder christlich motivierte Bilder zu schaffen. Damit lag er genau auf der Linie der Päpste Pius IX. und Leo XXIII., die den positiv göttlichen Ausdruck der Kunst als Darstellung des Göttlichen einforderten. Dies hatte allerdings zur Folge, dass die Entwicklung der Kunst im 19. Jahrhundert, gerade abseits der Kunstzentren wie Paris, zum Erliegen kam. Erst um 1900 kam in Vorarlberg auch so etwas wie ein kritisches, ja kirchenfeindliches Element zu tragen, das Gebhard Flatz als Epigonen und Eklektizist ohne selbstständigen Wert diffamierte.

Sexualfeindlichkeit

Die Ablehnung alles Sexuellen, insbesondere die Abbildung nackter Körper sieht Gerhard Wanner auch mentalitätsgeschichtlich bedingt. Die grassierenden Geschlechtskrankheiten, die Lebenserwartung von 34 Jahren am Ende des 19. Jahrhunderts und die Tatsache, dass jede dritte Schwangerschaft ein Todesurteil für die werdenden Mütter bedeutete, ließen die Sexualität als etwas Bedrohliches, durch und durch Negatives erscheinen.

Ein Augenmerk Wanners gilt auch dem Kirchenbau, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Vorarlberg boomte. Das war durch die sprudelnden Steuereinnahmen der Gemeinden und viele reiche, private Stifter möglich. 

Heile Welt und Kulturkampf

Die Kirche bot den Menschen, gegenüber der Ausbeutung in der sich etablierenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung, durch ihre heile Welt Trost und Hoffnung. Den Begriff von der „heilen Welt“ sieht der Historiker Wanner dialektisch, einerseits unter Kitschverdacht, andererseits positiv für die Erlangung von Glück und Sehnsucht der Menschen. Die neuromanischen und neugotischen Kirchenbauten am Ausgang des 19. Jahrhunderts stehen laut Wanner als Großbauten der Macht gegenüber dem modernen Fabriksbau. Nicht ohne Grund sind in Feldkirch die Ganahl-Textilfabrik und die Stella Matutina direkt nebeneinander errichtet worden, so wie Liberalismus und Katholizismus sich gegenüberstanden.

Paradigmenwechsel in den 1980er-Jahren

Die Vorarlberger Bevölkerung hatte im 19. Jahrhundert ein geringes Bildungsniveau. Das Bedürfnis Kunst zu kaufen, hielt sich in Grenzen, eine Grafik von Gebhard Flatz kostete das Monatsgehalt eines Arbeiters. Die erste reine Kunstausstellung in Vorarlberg gab es erst 1913. Die alemannisch-konservative Leitkultur mit ihrer stark kirchlichen Prägung wirkte weit ins 20. Jahrhundert hinein. Wanner sieht einen Paradigmenwechsel eigentlich erst in den 1980er Jahren, wo Bruno Kreisky, Feminismus und Studentenbewegung aus Wien oder die Wühlmäuse von Heiner Linder und die Gründung der Johann-Malin-Gesellschaft im Land linkskritisches Gedankengut nach Vorarlberg brachten. Den heutigen extremen Individualismus, auch in der Kunstszene, bezeichnet Wanner als Spiegel unserer Gesellschaft, die kein geschlossenes Weltbild mehr kennt. Jeder wählt heute ein Mehr oder Weniger an Tradition, so wie er sich als Konsument im Supermarkt für dieses oder jenes Joghurt entscheidet. Im 19. Jahrhundert wurde die Qualität eines Kunstwerkes ganz klar nach Form, Schule, Meister und Geschmack der Mehrheitsbevölkerung bewertet. Heute ginge es nur noch darum, etwas Neues zu produzieren, während der Maler einer klassischen Landschaft oder eines Porträts lächerlich gemacht werde.

Die Rheticusgesellschaft zur Kunstgeschichte Vorarlbergs

Die Rhetikusgesellschaft hat einen bemerkenswerten Band zur Kunstgeschichte Vorarlbergs veröffentlicht. Die Herausgeber Dr. Gerhard Wanner, Mag. Albert Ruetz und Mag. Christoph Volaucnik haben Texte zur Kunst Vorarlbergs vorgelegt.

Gerhard Wanner widmet sich im längsten Beitrag dem „Wunsch nach einer heilen Welt, Anmerkungen zur Kunstgeschichte Vorarlbergs im 19. Jahrhundert“. Weitere Beiträge behandeln vor allem auch Feldkircher Regionalgeschichte. So schreibt etwa Manfred  A. Getzner über die Apothekerfamilie Clessin in Feldkirch, Christoph Volaucnik über die Anfänge der Fotografie in der Montfortstadt und Albert Summer über den Bildhauer Jakob Summer aus Fraxern.

Beiträge zur Kunstgeschichte Vorarlbergs. Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft, 2021, 512 S., € 25.-
Beziehbar: Rheticusgesellschaft, Schlossergasse 3, Feldkirch,
T 05522 304 1271.