Das Vorarlberger Landestheater eröffnet die Spielsaison mit dem Klassiker Woyzeck von Georg Büchner. Das Publikum belohnte die rundherum gelungene Premiere mit minutenlangem Applaus.

Wolfgang Ölz

Felix Defèr stellt in der Titelrolle des Woyzeck unter Beweis, dass er nicht nur über ein komisches, sondern auch über ein tragisches Talent verfügt. Ein stimmiger Einfall der Regie (Tobias Wellemeyer) ist, dass Woyzeck in lachhaften weißen Unterhosen von seinen bösen Mitmenschen einfach aus einem Karton auf die Bühne gekippt wird - wie eine Fehlbestellung bei Amazon. Woyzeck wird von seinem Vorgesetzten (Jürgen Sarkiss) schikaniert, von einem Arzt (David Kopp) als Versuchsobjekt missbraucht und vom Verführer seiner Frau Marie (Nico Raschner) grausam gequält. Vivienne Causemann zeigt als Marie die beklemmende Studie eines unterprivilegierten, halbseidenen Mädchens.

Dass ich beten kann

Die Bühne ist von einem riesigen Gitter eingefasst (Bühnenbild: Ines Burisch). Die ganze Welt ist Bühne (Shakespeare), und damit ist die Botschaft klar: Die menschliche Existenz ist hier ewig vergittert. Nur ein Schlupfloch gibt es: Doch das ist durch ein kitschiges, rotes Herz Jesu verstellt. Der Katholizismus des 19. Jahrhunderts hat die freimachende Botschaft Jesu pervertiert: Unmenschliche Gesetze sperren den Menschen endgültig ein, machen ihn unfrei und zum Spielball der sich als moralisch gebenden, sadistischen Oberschicht. Berührend ist die Szene, in der Marie in der Bibel die Stelle von der Ehebrecherin findet. Die Lektüre endet in einem Aufschrei: „Herrgott, gib mir nur so viel, dass ich beten kann!“

Der geniale, junge Dichter

Georg Büchner (1813-1837) hat den Woyzeck als Fragment angelegt und gilt als Hauptvertreter der Literatur in der Zeit vor der Märzrevolution 1848. Mit 23 Jahren verstorben, hat er das Gedankengut der sozialistisch-kommunistischen Revolutionen vorweggenommen. Der Bregenzer Woyzeck ist sehr nahe an der Existenz des genialen, jungen Dichters Büchner, sprachgewaltig, philosophierend und tieffühlend. Woyzeck war so revolutionär, dass das Stück erst 1913 in der Zeit des Expressionismus uraufgeführt wurde. Erst eine Epoche, die das innere Gefühl über den schönen Schein stellte, konnte dem geknechteten Dasein eines Woyzeck gerecht werden. Niemals zuvor war in der Literaturgeschichte ein Mensch der untersten Gesellschaftsschicht Gegenstand einer Tragödie, niemals zuvor wurde einem einfachen Menschen ein tragisch fühlendes Schicksal zugestanden. Zeitlos ist es, wenn Woyzeck ruft: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hin-absieht.“

Eine geölte Theatermaschine

Tobias Wellemeyer wählte für seine Inszenierung eine mit Songs von Tom Waits angereicherte Fassung von Robert Wilson aus dem Jahr 2000. Zwischen den tiefschürfenden Szenen Büchners werden von den Schauspieler/innen immer wieder Lieder gesungen. So entsteht eine Mischung aus Broadway-Musical und existenzialistischem Drama. Es ist beeindruckend, wie sicher hier intoniert wird und wie stimmig die Musiker/innen im Hintergrund agieren (Leitung: Tilman Ritter). Szenenapplaus ist keine Seltenheit. Der Eindruck entsteht, dass die Theatermaschine am Kornmarkt nach der langen Zeit des Lockdowns nicht nur wirklich gut geölt ist, sondern eine Atmosphäre schafft, die sich mit den großen, deutschsprachigen Theaterhäusern vergleichen lassen kann. Die Nominierung des Großprojekts „Cold Songs: Rom“ (2019) für den Nestroy-Theaterpreis in der Kategorie „Beste Bundesländer-Aufführung“ zeigt, dass das Vorarlberger Landestheater vorne mitspielt.

Robert Wilson/Tom Waits/Kathleen Brennan nach Georg Büchner: Woyzeck. So 27. September, Do 8. / Sa 24. Oktober, Fr 3. November, 19.30 Uhr, Großes Haus Vorarlberger Landestheater,
Bregenz. Karten: 05574 42780

www.landestheater.org

(aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 39 vom 24. September 2020)