Bischof Stephan Sus aus Kiew dankte im Rahmen seines Solidaritätsbesuches der ukrainisch-griechisch-katholischen Gemeinde allen Vorarlberger:innen für die wertvolle Hilfe.
Wolfgang Ölz
Wie ist derzeit die Lage in Kiew? Sind die Menschen ausreichend mit Lebensmitteln, Wasser und Strom versorgt? Wie ist die Situation in anderen Landesteilen und an der Front?
Bischof Stephan Sus: Der Krieg hat im Allgemeinen die Lage sehr schlecht gemacht und einen Flüchtlingsstrom ausgelöst. Sieben Millionen Ukrainer:innen haben die Ukraine verlassen müssen, außerdem gibt es sechs Millionen Binnenflüchtlinge. In Kiew gibt es sehr viele Flüchtlinge, die aus den Kriegsgebieten gekommen sind. Mehr als zehn Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze. Sie leiden Hunger und haben keine Möglichkeit Lebensmittel zu kaufen und sind auch von der Wasserversorgung abgeschnitten. Krieg bedeutet, dass das über Jahre selbst gebaute Haus über Nacht nicht mehr da ist. Deswegen benötigen wir die große Hilfe der Caritas und von allen Österreichern wirklich dringend. Die Kirche ist nicht nur ein Haus des Gebetes, sondern auch ein Ort der konkreten Hilfe.
Bei uns gibt es das Sprichwort „Not lehrt beten“. Kommen die Menschen durch den Krieg vermehrt in die Kirchen?
Bischof Sus: Viele Ungläubige sind durch die Not des Krieges Gläubige geworden. In Österreich kann man sich nicht vorstellen, wie viel Menschen aufgrund dieser guten Taten gläubig geworden sind. Wir sollen nicht vergessen, dass Gott auf verschiedensten Ebenen Wunder wirkt. Wunder sind nichts Grandioses, sondern die Fähigkeit zu verstehen, was Gott uns geben möchte. Durch den Krieg hat man einen anderen Blick auf sich selbst, auf die eigene Einstellung, aber auch auf Gott. Unsere Soldaten sagen, nicht die Waffen sind das Wichtigste, sondern das Gebet, das unsere Waffe geworden ist. Das Gebet gibt uns auch innere Kraft. Das Gebet gibt uns die Möglichkeit immer Menschen zu bleiben. Wir versuchen zu verstehen, warum Russland mehr als fünftausend Raketen auf die Ukraine abgeschossen hat. Warum haben sie diesen Krieg begonnen?
Wie können sie trotz der Gräueltaten an die Güte Gottes glauben?
Bischof Sus: Jeder Ukrainer, der in der Früh aufsteht, fragt Gott: Wann endet dieser Krieg? Die jungen und die alten Menschen wissen jeden Tag, dass es ihr letzter Tag sein könnte. Wir wissen nicht, warum Gott diesen Krieg zugelassen hat. Wir haben viele Fragen an Gott. Die Antworten bekommen wir wahrscheinlich, indem wir unser eigenes Leben gut leben. Wir sind sicher, dass dieser Krieg bald enden wird. Gott weiß genau, wann der letzte Tag dieses Krieges sein wird. Uns ist auch bewusst, dass wir gegen das Böse kämpfen, weil der Krieg das Böse ist. Die Ukrainer haben diesen Krieg nicht begonnen. Wie das Böse in der Nacht kommt, so ist auch das Böse des Krieges in der Nacht gekommen.
Vor einem Jahr hat die Welt über Satellitenfotos die russischen Panzerkolonnen auf dem Weg nach Kiew gesehen. War es nie eine Option für Sie selbst zu flüchten?
Bischof Sus: Das war auch für mich ein schrecklicher Moment. Der erste Tag des Krieges ist jedem Ukrainer immer noch im Bewusstsein. Wir Priester und Bischöfe sind mit denjenigen geblieben, die keine Möglichkeit hatten zu fliehen. Unsere Kirchen sind zu Wohnhäusern für tausende Menschen geworden. Die Gläubigen sind auch für viele Monate in den Bunkern geblieben. Wir haben füreinander gekocht, gebetet, auch die, die nicht gläubig waren, sind das erste Mal in die Kirche gekommen. Sie haben gesagt, seit dem Beginn des Krieges sei die Kirche zu einem großen Schutz für sie geworden. Wir verteilen in den Kirchen Lebensmittelpakete, die für eine Woche das Überleben sichern.
Wie haben Sie den Besuch des US-Präsidenten Joe Biden erlebt?
Bischof Sus: Niemand hat mehr an die Ukraine geglaubt. Dass Joe Biden, aber auch Spitzenpolitiker anderer Länder, einfach so in Kiew spazieren gegangen sind, ist für uns ein Zeichen, dass Russland diesen Krieg verloren hat.
Die russisch orthodoxe Kirche der Ukraine hat sich vom Moskauer Patriarchat abgespalten. Warum sehen Sie die Ökumene in der Ukraine immer noch kritisch?
Bischof Sus: Wir wissen aus statistischen Quellen, dass 70 Prozent der russischen Bevölkerung sagen, dass dieser Krieg richtig ist, wie es auch Patriarch Kyrill meint. Das „Vater unser“ beten mit uns evangelische Pastoren genauso wie Vertreter des orthodoxen Patriarchats von Konstantinopel, aber das russische Patriarchat hat mit uns das „Vater unser“ nie gebetet. Sie behaupten sogar, dass Gott nur russisch gesprochene Gebete erhört. Ich habe mir oft überlegt, dass Ökumene mit den Muslimen leichter zu machen wäre als mit den russisch orthodoxen Christen. 2014, als Putin die Krim angegriffen hat, haben sich die russisch orthodoxen Priester geweigert, die gefallenen ukrainischen Soldaten zu beerdigen.