Warum die Coronakrise noch nicht vorbei ist, was Macht für ihn bedeutet und warum Wohlhabende ihren Beitrag zur Bekämpfung der Krisenfolgen leisten müssen, erklärt Gesundheitsminister Rudi Anschober (Grüne) im Interview.

Die Fragen stellte Heinz Niederleitner

Angesichts der sinkenden Infektionszahlen sagen manche: „Die rigiden Maßnahmen waren übertrieben.“ Wie reagieren Sie darauf?
Rudi Anschober: Das ist die Zwiespältigkeit des Erfolges. Ich versuche aufzuklären, dass die guten Zahlen die Folge richtiger Maßnahmen zur richtigen Zeit bei großartiger Beteiligung der Österreicher/innen sind. Ein Blick in andere europäische Länder genügt, um zu erkennen, wo wir sonst ständen. Die derzeitige Herausforderung ist groß: Denn auch bei geringen Infiziertenraten hat sich nichts an der extremen Ansteckungsfähigkeit des Virus geändert. Singapur war zunächst mit seinem Erfolg in der Eindämmung des Virus ein Vorbild. Jetzt gibt es dort eine zweite Welle. Das müssen wir bei uns mit aller Kraft verhindern. Es wäre katastrophal für die Gesundheit, die Gesellschaft und die Wirtschaft.

Die Österreicher/innen waren sehr diszipliniert. Haben Sie mit mehr Widerstand gerechnet?
Anschober: Ich war positiv überrascht. Die Menschen haben aber auch gesehen, was in Italien passierte, wo Ärzt/innen entscheiden mussten, wer überhaupt noch behandelt wird. Das Schönste, was ich in den vergangenen Wochen erlebt habe, war das Comeback der Solidarität: Menschen haben Verantwortung für andere übernommen.

Sie haben Erlässe unterschrieben, die stark in das Leben von Menschen eingegriffen haben, auch in Grundrechte. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Anschober: Das kann man nur mit großer Demut und Vorsicht machen. Es ist ein tägliches Abwägen zwischen Grundrechten und Gesundheit. Wer in dieser Position ist, dem müssen Demokratie und Menschenrechte ein hohes Gut sein. Ich habe versucht, Erlässe zu schaffen, die auf der sicheren Seite sind. Ab einem gewissen Zeitpunkt haben wir bewusst kritische Jurist/innen einbezogen – und das hat sich bewährt.

Der Erlass vor Ostern war verwirrend und musste zurückgezogen werden. Welche Konsequenzen haben Sie gezogen?
Anschober: Der Ostererlass hat gezeigt, unter welch großem Zeitdruck wir arbeiten müssen. Die Geschwindigkeit ist eine Ursache des Erfolgs. Dass da Fehler passieren, ist selbstverständlich. Natürlich ärgern auch mich Fehler. Aber mir ist eine neue Fehlerkultur wichtig: Fehler muss man eingestehen und reparieren. Die zweite Lehre für mich war, eine Reihe herausragender Verfassungsrechtler dafür zu gewinnen, uns ehrenamtlich zu beraten.

Aber eine parlamentarische Begutachtung von Gesetzen sollte doch das Ziel sein, oder?
Anschober: Selbstverständlich. Aber in der Akutphase hätte das eine Verzögerung von sechs Wochen bedeutet. Wichtig war mir damals, dass wir vom Bundespräsidenten, den Ländern und allen Parteien unterstützt wurden. Auch das zeigt, wie Österreich in einer Krise zusammenstehen kann.

Es gibt derzeit eine angeregte Diskussion über politische Macht und Autorität. Was ist Macht für Sie? Gibt es eine Versuchung der Macht?
Anschober: Da ich nichts mehr werden muss, verspüre ich die Versuchung nicht. Macht braucht es, um meine Aufgabe gut zu meistern, gerade in dieser Pandemie. Das Gegenteil wäre Ohnmacht – und die wäre in der größten Pandemie seit hundert Jahren nicht hilfreich. Klar ist aber, dass wir zum Beispiel das alte Epidemiegesetz auf demokratiepolitisch neue Beine stellen müssen.

Wie haben Sie angesichts der Coronakrise die Kooperation mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften erlebt?
Anschober: Das war ein hervorragender, ehrlicher und offener Dialog. Die Religionsgemeinschaften haben uns auch klar gesagt, wo aus dem jeweiligen Glauben heraus ihre Grenzen liegen. Daraus haben wir versucht, einen bestmöglichen politischen Rahmen zu formen.

Müssen wir angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen mit dem Motto rechnen: Der Arbeitsplatz ist wichtiger als der Klimaschutz?
Anschober: Absolut nicht. Moderner Klimaschutz ist der beste Konjunkturimpuls. Wir müssen die Vorhaben, die wir hier ohnehin geplant haben, massiv vorziehen. Als Sozialminister mache ich mir große Sorgen, dass der Gesundheitskrise eine soziale Krise folgt. Das müssen wir unbedingt verhindern. Der Arbeitsmarkt ist ein zentraler Schlüssel dafür. Österreich ist trotz allem ein wohlhabendes Land. Wenn wir die Solidarität aus der Gesundheitsfrage in die soziale Frage mitnehmen, bin ich zuversichtlich.

Heißt das auch Solidarität bei den Steuern?
Anschober: Viele sehr wohlhabende Menschen wissen, dass sie an den Nächsten denken und teilen müssen. Erst kürzlich hat mir ein Industriemanager gesagt, es sei ihm klar, dass die sehr gut Verdienenden einen Beitrag zu leisten haben. «

(aus dem Vorarlberger KirchenBlatt Nr. 21 vom 21. Mai 2020)