Am 11. Oktober 1962 wurde das Zweite Vatikanum eröffnet. Prof. Dr. Roman Siebenrock gibt seine Expertise zum Konzil.
Wolfgang Ölz
Von verschiedenen Seiten tönt die Formel, wie wichtig das Konzil immer noch sei. Wie viel ist an der Bedeutung des Konzils heute noch dran?
Prof. Roman Siebenrock: Konzilien sind Brennpunkte der Kirchen- und Glaubensgeschichte und werden nicht in einer, kaum in zwei Generationen wirklich aufgenommen und ins selbstverständliche Leben der Kirche integriert. Das Zweite Vatikanische Konzil kann deshalb an Bedeutung kaum überschätzt werden, weil es bis heute, negativ oder positiv, die Bezugsgröße unserer Debatten darstellt. Ich möchte vor allem folgende inhaltliche Punkte herausstellen: Karl Rahner sagt mit Paul VI., dass dieses Konzil der Anfang eines Anfangs sei. Das bedeutet, dass so manches grundgelegt und noch nicht entfaltet worden ist. Z.B. die Kirche ist hier Weltkirche geworden. Das bedeutet, dass wir Europäer nicht mehr die erste Geige spielen werden, sondern die Kirchen des Südens wesentlich mitentscheiden. Das bedeutet ganz konkret, und dieses Bewusstsein ist im deutschen synodalen Prozess kaum vorhanden, dass z.B. im Bereich der normativen Sexualität und Lebensformen auch andere Kulturen ein gewichtiges Wort mitreden werden. Das ist zudem einzigartig und verlangt von uns Europäern wirklich ein radikales Umdenken. Wir reden gerne von postkolonialem Denken, hier würde es konkret werden.
Welche Bedeutung hat das Konzil theologisch?
Siebenrock: Theologisch halte ich folgende Grundüberzeugung für anhaltend bedeutsam und großartig: Das Konzil bekennt sich zum universalen und ernsthaften Heilswillen Gottes, der mit seiner Gnade im Heiligen Geist nicht nur allen Menschen nahe ist, sondern sie auf unterschiedliche Weise anspricht und begleitet. Damit ist der Heilspessimismus des Augustinus überwunden, der die Heilsangst tief in die Seelen und die Handlungen der Glaubenden eingetragen hat. Wir dürfen in hoffender Zuversicht unseren Weg in Gottes Liebe und seine absolute Zukunft gehen; mit Ernsthaftigkeit aber ohne Angst.
Deshalb hat Paul VI. gesagt, die Kirche müsse die Gestalt des Wortes, der Botschaft des Gesprächs annehmen. Von diesem Gespräch oder Dialog ist aber niemand ausgeschlossen. Deshalb verpflichtet sich das Konzil auf den ökumenischen, den interreligiösen und den Dialog mit allen Menschen guten Willens. Das wird hoffentlich immer mehr zur selbstverständlichen Haltung der Kirche werden. Das bedeutet aber auch, dass der Geist des Herrn prinzipiell überall weht. Die Kirche, so sagt es das Konzil wörtlich, muss deshalb die Zeichen der Zeit lesen, und im Geist des Evangeliums unterscheiden. Sie lernt also von denen auch die Botschaft, die sie zu verkünden hat. Das ändert die Missionsvorstellung radikal.
Der dritte Aspekt, und es gäbe noch viele zu nennen, ist die Anerkennung der Religionsfreiheit. Damit verabschiedet sich die Kirche von der Symbiose von Staat und Kirche, bestimmt sich als Teil der Zivilgesellschaft und weiß, dass sie für ihre Sendung allein auf Predigt, Argument und Dienst am Leben der Menschen bauen darf. Und eine letzte einschneidende Veränderung durch das Konzil nach außen ist zu nennen: die Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Judentum. Diese Neuorientierung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Für das Selbstverständnis der Kirche ist von kaum zu überschätzender Bedeutung, dass als das grundlegende Sakrament die Taufe angesehen worden ist. Das bedeutet, dass alle an der Sendung der Kirche teilhaben, und aller Dienst und alles Amt diese Taufsendung zu fördern und zu schätzen hat. Deshalb ist die Kirche nicht vom Amt und von der Hierarchie her, sondern vom Volk Gottes her zu denken.
Sind die damals erreichten Errungenschaften heute nicht schon völlig obligat?
Siebenrock: Das eben Genannte unterstreicht, was Johannes XXIII. vom Konzil erwartete: Ein neues Pfingsten der Kirche. Man muss ganz nüchtern aber zugestehen, dass mit dem Amtsantritt von Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation diese Dynamik des Konzils nach innen anders eingeordnet worden ist. Sein Versöhnungsversuch mit der Priesterbruderschaft St. Pius X., d.h. mit Erzbischof Lefebvre, unterstreicht das sehr. Ein heißes Thema ist Familie, Beziehung und Sexualität. Der entscheidende Paradigmenwechsel vollzieht nicht, wie manche behaupten, die deutsche Kirche jetzt. Niemals kann eine Ortskirche einen Paradigmenwechsel vollziehen. Das Konzil hat diesen Paradigmenwechsel bereits vollzogen, weil es einen grundsätzlich personalen Ansatz gewählt hat, und sich von einem naturrechtlichen Ansatz verabschiedet hatte. Damit stehe die personale Beziehung, die auch das Offenbarungsverständnis prägt, im Mittelpunkt; und damit auch die Selbsterfahrung der Menschen. Jetzt ginge es darum, diesen Ansatz des Konzils konsequent fortzusetzen. Dann aber könnten wir feststellen, dass es Personen gibt, die sich als homosexuell veranlagt erfahren; die auch biologisch zwischen den traditionellen Geschlechtern stehen, und vieles andere mehr. Damit wird die Bedeutung von Treue und Hingabe, Solidarität bis in den Tod nicht abgeschafft, sondern es wird deutlich, dass das, was sich Brautleute versprechen, nicht an die traditionelle Geschlechtervorstellung gebunden ist.
Bräuchte es nicht längst ein neues Konzil?
Siebenrock: Konzilien sind keine Luxusartikel, um theologische Positionen durchzusetzen. Ich rate von einem neuen Konzil ab, solange nicht die Hausaufgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils gemacht worden sind. Ein neues Konzil kann es nur geben, wenn Frauen vollgültig mitstimmen dürfen und wenn es zu einer substantiellen ökumenischen Einheit dadurch kommen könnte und unsere Kirche sich nicht dadurch noch mehr spalten würde, als sie es eh schon ist.
Ich bin der Überzeugung, dass der von Papst Franziskus angeregte synodale Weg vielleicht schon eine erste Etappe auf ein kommendes Konzil hin darstellen kann. Aber der Geist des Konzils, der immer der Geist Christi sein wird, sehe ich nicht immer in unseren synodalen Prozessen. Denn die Maxime des Umgangs in einer christlichen Gemeinde, die auch einen synodalen Weg prägen sollte, hat Paulus im Philipperbrief Kapitel 2 klar ausgedrückt: „Macht meine Freude vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig, einträchtig, dass ihr nichts aus Streitsucht und nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst. (...) Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht.“ Leben wir das wirklich, was hier gesagt wird?